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Gelesen. Ziegler.

Ulf Erdmann Ziegler: Nichts Weißes. Berlin: Suhrkamp, 2012.

Marleen ist Legasthenikerin. So entgeht ihr möglicherweise der Sinn des Geschriebenen, doch die Gestalt der Buchstaben und die Form der Wörter auf dem Weiß des Papiers werden ihre Profession. Strotzt vor Anspielungen auf Verlags- und Buchherstellungsbranche und zeichnet nebenbei ein Bild der Gesellschaft der letzten Jahrzehnte. Wenn auch nicht groß, gefällt es doch.

Gelesen. Janka.

Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch, 1989.

Das Buch habe ich in meiner Buchhandelszeit zwar verkauft, aber nicht gelesen (wo anfangen, wo aufhören, wenn man täglich eine vortrefflich sortierte Buchhandlung um sich hat?). – Jetzt nachgeholt: die Geschichte des Leiters des Aufbau-Verlags, der im Zuge spätstalinistischer Säuberungen dem Staat zum Opfer fällt. Nach wie vor schauderhaft zu lesen.

»Buchhandel« à la Thalia.

Wenn ich in der Berufsschule den Auszubildenden den theoretischen Hintergrund zur Alltagspraxis im Geschäft nahezubringen suche, müssen natürlich immer auch wieder Beispiele herangezogen werden, die zeigen, wie es nicht sein soll.

Die Buchhandelskette Thalia bewirbt sich gerade wieder einmal um eine solche Erwähnung, denn sie fordert rückwirkend eine Werbekostenpauschale von den Verlagen. Die Formulierung der Erwartung seitens Thalia, »dass unsere Lieferanten einen adäquaten Beitrag leisten, damit wir Ihre Produkte auch in Zukunft erfolgreich und zu Ihrem Nutzen bundesweit zu unseren Kunden bringen können«, [Hervorhebung von mir] ist eine recht unverhohlene Drohung, und es ehrt den ohnehin großartigen Hermann Schmidt Verlag, dass er diese Praxis ans Licht bringt.

Die Leistung, die Thalia zur Begründung heranzieht, ist übrigens in der Tat keine geringe. Sie wird aber auch von jeder anderen Buchhandlung erbracht, gerade auch von den kleinen, die nicht über die Marktmacht verfügen, ihre Handelspartner in dieser Weise vor den Kopf zu stoßen.

Es muss also weiterhin heißen buy local (und nicht im zentralen Versandhandel) – ob allerdings Thalia die richtige Adresse ist, darf man noch einmal überdenken.

Gelesen. Kurzeck.

Peter Kurzeck: Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1979.

Einen kommerziellen Erfolg dürfte Stroemfeld/Roter Stern mit diesem Buch nicht erzielt haben: bestellt man es heute in der Buchhandlung seines Vertrauens, bekommt man die Erstausgabe von 1979 geliefert (englische Broschur, fadengeheftet). Es bereitet mir eine gewisse Freude, mir vorzustellen, was junge Absolvent_innen eines BWL-Studiums zu dieser Lagerhaltung sagen würden (und es sollte klar sein, auf wessen Seite meine Sympathien liegen). – Im Archiv der Zeit übrigens findet sich dankenswerterweise öffentlich verfügbar auch eine Rezension der damaligen Neuerscheinung.

Das erste Buch (und/oder frühe Fassungen desselben) geschätzter Autor_innen muss natürlich gelesen werden, und so manches Mal zeigt es in besonderer Weise und noch eher unverstellt positive Eigenheiten, die später im routinierteren, abgeklärten Schreiben nicht mehr sichtbar sind. Joyces Stephen Hero ist so ein Fall, Johnsons Ingrid Babendererde auch.

Im Falle Kurzecks scheint mir der Fall anders zu liegen. Ausgehend von den guten Leseeindrücken von zweieinhalb Bänden des Romanprojekts »Das alte Jahrhundert« ist der Nußbaum-Band ein fast krudes Gemisch unterschiedlicher Stile und Ebenen; eher unbeholfen aufsässig-aggressive Beschreibungen kleinbürgerlicher Existenzen in naiver Selbstgerechtigkeit und Großmannstum werden immer wieder durch Ergänzungen in Klammern und Assoziationen in Parenthesen unterbrochen, allerdings so, dass es sich weder zum stimmigen Bild fügt noch radikal genug wäre, um als nietzschesche »Umwertung aller Werte« poetisches Neuland betreten zu können.

Neben der eigentlich erzählten Geschichte (die vermutlich weitgehend die des Alkoholikers und Gefängnisinsassen Kurzeck ist) wird über weite Strecken ein Bild von Wirklichkeit gezeichnet, das unbarmherzig sein will, aber doch nur traurig wirkungslos aufbegehrt, bevor der nächste Wein mit Schnaps verstärkt wird. Ganz abgesehen davon habe ich den Eindruck, dass das destruktive Umsichschlagen in Form ätzender Kritik eigentlich nicht Kurzecks Naturell entspricht, sondern eher die gehorsame Erfüllung einer (vielleicht ihrerseits wieder nur vorgestellten) Erwartungshaltung an den gesellschaftlich engagierten Schriftsteller der späten 1970er Jahre darstellt.

Formal übrigens ähneln die Absätze häufig genug Arno Schmidts Vorstellungen von moderner Prosa, wie dieser sie wiederum 20 Jahre vorher (!) in den »Berechnungen« vorstellt (In: Rosen & Porree. S. Fischer: Frankfurt am Main, 1984. S. 283 ff.11: Dies ist ein Reprint der Erstausgabe bei Stahlberg, 1959. Die Reprints waren Fischer ebenso wie Taschenbücher vertraglich erlaubt, Neueditionen sollte es dann nur noch bei Haffmans geben, vornehmlich in der Bargfelder Ausgabe, die nach dem Dahinscheiden des Haffmans-Verlages bei Suhrkamp weitergepflegt wird und an sich Zitierreferenz ist. Steht hier aber leider nicht im Regal.) und in frühen Texten zumindest von der äußeren Struktur her übt: ein »Foto« der Erinnerung wird beim Leser evoziert durch die Benennung eines Sachverhalts zu Beginn eines Absatzes – bei Schmidt häufig durch Kursivierung und hängenden Einzug hervorgehoben –, der dann in den folgenden Sätzen assoziativ ausgearbeitet wird:

Noch grade liegen: Kaumlicht. (Also Hypolampuses Hemeras).

Der Hof: füllte sich mit Schallspuren: Tritte zogen knopfige Reihen. Am Fenster vorbei. Gäule rammten prallbündel aufs Pflaster. (Quieke hoppelten; Rufe pendelten drüber weg).

Rasch draußen umsehen: das Jammerbild des Mondes, Einer der verdrossen am Eierkopf hängt, mikrokephal, schlotterte durch Wolkenschlafröcke; genickschüssig.

[Arno Schmidt: »Kosmas oder Vom Berge des Nordens«. Rosen & Porree. 185 f.]

Viele solcher Einzelbeobachtungen bilden dann den Gesamteindruck. – Bei Kurzeck finden wir das ganz ähnlich; der erste Satz markiert jeweils die Situation, die im Folgenden ausgeführt wird:

Heimwege, »ich bin fremd hier!« Zwei Straßen weiter (wie vorbestimmt, doch ich hatte meinen Namen vergessen, wie mein Herz klopft) findest du unversehens eine rotweißgrüngestreifte italienische Eckkneipe (als ob du sie von je her gekannt hättest – nachher weiterfahren!), wo du bei offener Tür kannst sitzen in zeitlosem Frieden und guten Espresso trinken. Kaum Gäste, Zeit im Spiegel: Morgensonne zu Füßen. Der Wirt, ein Römer, berechnet langwierig seinen Gewinn pro Minute-Stunde-Jahr-Tag usw., lautlos, die Lippen gespitzt (wenn ich jetzt einen Cynar bestelle, lieber noch Grappa, dann muß er nochmal wieder ganz von vorn anfangen: sein Leben neu ordnen). Ein kleines frühreifes Tigerkätzchen streicht schattenhaft, ganz verwundert, tapsig-behend um viele verlassene Tischbeine. »Hier kennt mich keiner!«** Zwischendurch, im selbstvergessenen dösenden Spiegel sah ich wie ein besessener blauäugiger Araber aus, der sein Mekka sucht, Müdigkeitseuphorien! [Diese Randnote im Original als Fußnote.] Und Espresso trinkend stundenlang alte Platten spielen, ganz für dich: den ganzen leeren sonnigen Samstagmorgen, streck die Füße untern Tisch. »Blueberryhill«

»Zeit-zu-fahren!« Wie mit Kreide die südliche Ausfallstraße, meine damalige fixe Idee, flimmernde weiße Linie, täglich , endlos: kaum einen Steinwurf weit (Himmel wolkenlos, Zeitzufahren.) »Alle künftigen Katastrophen meilenweit weg und ganz und gar unwahrscheinlich, undenkbar!« (Die Abdrift der Kontinente)

[Kurzeck: Nußbaum. 28 f.]

Daneben sind Elemente seines späteren Schreibens wie das wiederholte motivhafte Aufnehmen von Situationen schon hier nachweisbar, wenn beispielsweise der Besuch bei den Schwiegereltern und ihre Eigenheiten variierend wiederholt beschrieben werden (186 und 294).

Bei alledem hat dieses frühe Werk die Vorfreude auf den Vorabend eher noch verstärkt. (Vorher sind aber noch ein paar andere Bücher dran.)

Gelesen. Schmied (mit viel Kurzeck).

Erika Schmied (Hrsg.): Peter Kurzeck. Der radikale Biograph. Frankfurt am Main: Stroemfeld, 2013.

Zu Kurzecks siebzigstem Geburtstag erarbeitetes hübsches Bilderbuch mit gut ausgewählten Texten Kurzecks zu Fotografien seiner Schauplätze und Figuren. Ergänzt wird diese Zusammenstellung durch Interviews sowie würdigende Texte.

Gerade in Ermangelung wenigstens einer rororo-Monografie (Hallo? Rowohlt? Hört mich wer?) hätte sich der Leser allerdings wenigstens eine biografische Übersicht und eine Werkbiografie gewünscht.

Frankfurter Buchmesse 2015 – #fbm15.

Morgen geht’s mit einer Kollegin und vor allem einer Klasse Buchhändlerinnen per Zug nach Frankfurt zur Buchmesse. Die App ist geladen und so finde ich vielleicht auch den Weg zu den Verlagen.

Von besonderem Interesse: Halle 6.* mit den englischsprachigen internationalen Verlagen, Halle 4.0 mit Verlag und Herstellung, dann generell Literatur. Zu besuchen auch die »Leseinsel der unabhängigen Verlage« in Halle 4.1. In 4.2 gibt’s ein »Klassenzimmer der Zukunft« (und ich bin gespannt, welche Rolle dort die fragwürdigen elektronischen Schulbücher einnehmen) und in 3.0 Comics. Außerdem gibt’s immer Unvorhergesehenes, so die ganzen Veranstaltungen mit den Stars der Branche.

Die Azubis haben ihren eigenen Kompass, und nach einer Weile des Umherirrens und -stöberns die Eindrücke zu vergleichen ist ohnehin das Beste.

Sehen wir uns dort?

Peter Handke über Verleger.

Mit dem Lesen von Zeitungen komme ich ja manchmal nicht hinterher. Jede Woche eine neue Zeit – wie soll das gehen? Erst jetzt fand ich daher in einer älteren Literaturbeilage das Interview Ulrich Greiners mit Peter Handke, in dem sich auch folgende Passage findet:

ZEIT: In Deutschland ziehen viele Autoren nach Berlin, weil sie sich dort Anregungen erhoffen, von anderen Autoren, Verlegern, Intellektuellen.

HANDKE: Anregungen von Verlegern? Da bekomme ich von Hornissen mehr Anregung. Ich lese, das ist mir Kontakt genug.

Das Interview ist komplett zu lesen hier.

Urheberrecht und Autorenverdienst.

Wenn ich mit meine Buchhandelsauszubildenden das schwierige Feld der buchverlagsinternen Preiskalkulation bespreche, spielt am Rande auch Heinrich Bölls Klage über die unzureichende Beteiligung des Autors am Verkaufspreis (in »Ende der Bescheidenheit«, aus urheberrechtlichen Gründen nicht online verfügbar) eine Rolle.

Jörg Kantel rechnet nun Bodo Ramelow vor, wieso für ihn bei weiteren Publikationen nur der Verzicht auf Verlagsdienstleistungen in Frage kommt.

Meiner macht Philosophie.

Kein Philosophiestudent kommt an den grünen Bänden des Meiner-Verlags vorbei. Nun hat die Deutsche Welle einen Filmbeitrag über den Verlag gedreht, der auch über YouTube verfügbar ist.

Nett daran: auf die in Anbetracht der Tatsache, dass ihr gerade ein mehrbändiges Fachlexikon zur Philosophie vorgestellt wurde, dusselige Erkundigung der das Interview führenden Praktikantin »Ist das nicht sehr abstrakt – in der heutigen Zeit, in der man alles so instant-mäßig haben will?« meint Manfred Meiner nur »Ja, das sind Sie dann bei uns falsch, wenn Sie instant wollen, werden Sie in unserem Programm nicht fündig.« Sie vergewissert sich noch mal: »Das ist nicht Philosophie to go, das ist hardcore?« Er bestätigt: »Das ist hardcore

Himmel! Sie ist bei Meiner! Kann man sich da nicht vorher ein, zwei intelligente Fragen diktieren lassen?