Bereits die zweite Staffel einer Fernsehserie, die schon in der ersten von Anfang an überzeugte: oberflächlich ein Retro-Science-Fiction-Horror-Vergnügen, tatsächlich vermutlich auch deshalb so mitfühlend und begeistert aufgenommen, weil ganz grundlegende Themen verhandelt und in positivem Sinne gelöst werden; dies zudem vorgestellt von einem wohlausgewählten Ensemble von Schauspieler_innen, die jeweils hervorragende – gerade im Falle der Darsteller_innen im Kinder- bzw. Jugendalter außergewöhnliche – Leistungen zeigen. In erster Linie zu nennen sind da die Freunde Finn Wolfhard (Mike), Caleb McLaughlin (Lucas), Gaten Matarazzo (Dustin) und Noah Schnapp (Will) sowie vor allem Millie Bobby Brown (Eleven), die aufgrund ihrer textarmen Rolle eines vorsichtig-zurückhaltenden Charakters besonders gefordert ist. Dass die in der zweiten Staffel hinzutretende Sadie Sink (Max) zu den bislang genannten aufschließen kann, sehe ich noch nicht als gesichert. Aber auch die Erwachsenenrollen sind ausnehmend gut besetzt – vor allem Winona Ryder (Joyce) zeigt hier als alleinerziehende Mutter beachtlich Expressives. Zwischen den Erwachsenen und den Kindern bewegen sich noch die Jugendlichen – Mikes große Schwester Nancy, Steve, Jonathan und ein paar unwichtigere Figuren. In allen Fällen aber ist das Casting großartig.
Obwohl Kinder im Zentrum des Geschehens stehen, ist die Serie – anders als die ausführlich referenzierten Filme Stand By Me, E. T., Goonies etc. – nicht primär an Kinder gerichtet; einige Szenen sind denkbar ungeeignet mindestens für unter zwölfjährige. Die Zielgruppen sind unterschiedlich popkulturell geprägte: zum einen diejenigen, die 1983 bzw. 1984 im Alter der Figuren waren und daher vieles wieder erkennen oder zu erkennen glauben: schon der Blick dieser unserer Generation ist ja keine unmittelbare Erinnerung, sondern ein durch Videos, Filme bzw. Filmstills geprägtes Bild der Zeit. Wir kennen nun einmal keine Kleinstadt in Indiana (obwohl uns so vieles vertraut scheint), sondern vielleicht eine bei Castrop-Rauxel, kennen vielleicht Bielefeld, Villingen-Schwenningen oder Mettenhof. Allerdings sind uns auch fast ebenso vertraut medial vermittelte Bilder von Kindheiten in den USA, die anschlussfähig waren aufgrund der universalen Konstellationen und der mit ihnen einhergehenden Probleme, in denen Kinder zumindest in allen westlich geprägten Gesellschaften aufwachsen: Erfahrungen von (von einer Majorität) ausgegrenzt und (mit einer Peergroup) vertraut Sein, Austarieren von Gruppendynamiken und gruppeninternen Konflikten, Auseinandersetzungen mit Autoritäten, Gefahren jedweder Art (und der fiese große Junge von nebenan ist eben auch nur ein Monster) etc. Zum anderen sind angesprochen Jugendliche und jüngere Erwachsene, die gerade aus Film & Fernsehen, aber auch aus anderen Medien die Verweis- und Zitatkultur schätzen gelernt haben und so als Kenner angesprochen werden können, ohne dass sie tatsächlich unmittelbar Betroffene wären; die drei vorher genannten Gruppen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) bieten vielfältige Identifikationsmöglichkeiten.
Dieser ganze Retrokram ist dabei klasse gemacht und bereitet viel Spaß – ob man den Spuren von Postern (z. B. Jaws, Apple), Technik (z. B. Walkie-Talkies, VCR), Musik (z. B. The Clash, Joy Division, Police), Filmen (z. B. Poltergeist, The Fog) oder allgemein Ausstattung (Frisuren, Kleidung, Möbel etc.) nachgeht: das ist alles mit viel Zuneigung zum Detail gestaltet und macht natürlich Laune.
Mindestens die erste Staffel schwelgt dabei im behaglichen Jungsmodus: Eleven wird als Monster wahrgenommen und benannt, ist damit das vielleicht nicht nur aus entwicklungspsychologischer Sicht verständlicherweise Fremde; da sie Ausnahmekräfte hat, bleibt sie das auch bedrohliche Andere.11: Übrigens auch in der zweiten Staffel angedeutet: El will sich zu Halloween als Geist verkleiden – die Jungs gehen als Ghostbusters … Die Übereinstimmung mit ästhetischen Normen (und damit auch Geschlechterrollen) wird ihr gegenüber mehrfach thematisiert; Mike lobt ihr Aussehen als »pretty«22: … und relativiert es seines Ansehens bei seinen Freunden wegen zunächst in »pretty good«, bevor er das Lob später wiederholt., als sie sich aus Tarngründen ihren rasierten Kopf mit einer Perücke bedecken und Mädchenkleidung tragen muss; was allerdings die Zuneigung Mikes wachsen lässt, ist vielleicht gerade das Jungskompatible: sie ist eben nicht das typische Mädchen, sondern ein kumpelhaftes, eher maskulines, starkes. Und so bestärkt Mike sie auch später, dass sie die Perücke, die sie verloren hat, nicht braucht, um »still pretty« zu bleiben.
In ähnlicher Weise ist in der zweiten Staffel auch Max trotz ihrer langen Haare ein Tomboy, denn sie punktet in wichtigen Jungskategorien: Videospiele, Skateboard- und schließlich sogar Autofahren. Und auch wenn die Jungsperspektive selten verlassen wird und Klischees der Zeit übernommen werden, zeigen sich auch immer wieder Brüche: Nancy, die dem Schönling der Schule verfällt, kann besser schießen als Jonathan, ihre Mutter Karen ist diejenige, die das Familienleben regelt (während der Vater, grundsätzlich unbeteiligt, schon mit dem bloßen Existieren ausgelastet zu sein scheint), etc.
Und: sieht man von der oben benannten Perspektive ab, haben die Duffer Brothers mit der kurzgeschorenen Eleven eine für die Geschichte zentrale, ikonische starke Mädchenfigur geschaffen, die ihresgleichen sucht, und offenbar geschlechterübergreifend als Identifikationsfigur angenommen wird. Gerade auch in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen traumatischen Geschichte und in der Auswahl zwischen verschiedenen angebotenen »homes« des für sie richtigen, in der Entscheidung gegen die Rache um jeden Preis, aber für die rückhaltlosen Einsatz für ihre Freunde zeigt sie sich als eine sensible und doch entschlossene Kämpferin.
Die den Horroranteil ausmachenden zu bekämpfenden Monster sind bei all dem eigentlich gar nicht so wichtig: ob man sich vor den Bullies oder dem Demogorgon in acht nehmen muss, vor dem aggressiven Stiefbruder oder eher vor noch größeren Gefahren, ist irrelevant, weil austauschbar potentiell lebensgefährlich; im Hinblick auf die Konstruktion der Geschichte geht es um die Frage, auf wen man sich in welchem Maße verlassen kann. Und da können die Unscheinbaren, vermeintlich Schwachen, die loser im gemeinsamen Miteinander immer wieder bestehen.33: Die Ähnlichkeit dieser Konstellation zu Kings Es – inklusive der Moral – ist natürlich auch nicht zufällig. Und auch wie bei King (Eddie Kaspbrak – Mutter) kann die eigentlich positive Liebe der Eltern zu ihren Kindern auch umschlagen in ein Zuviel derselben, etwa, wenn Joyce aufgrund der Erfahrungen, die in der ersten Staffel gezeigt werden, Will anschließend ein wenig zu sehr behütet. Dass alles Behüten denn auch nicht hilft gegen die Gefahr, liegt bei Joyce und Will in der Natur des Horrorfilms, bei Hopper und Eleven in der Natur des Coming-of-Age-Films. Auch diese Regel aus dem einführenden D&D-Spiel darf auf das Ganze übertragen werden. –
Insgesamt eine astreine Serie, die mittels starker Figuren in überzeugenden Bildern zwischen archetypischen Auseinandersetzungen auf der einen sowie freundschaftlicher Unterstützung und zarten Annäherungen auf der anderen Seite das Gute – Freundschaft (»friends don’t lie«), Verlässlichkeit (»Promise?« – »Promise!«), Liebe (»someone that you like – not a friend«) – als das zu erreichende Ideal beschwört.
Nachdem ich kürzlich von Stephen Kings Ratschlag an Jungschriftsteller schrieb, Adverbien möglichst sparsam – am besten gar nicht – zu verwenden, lese ich in der neuesten Ausgabe der Sinn und Form einen »Tod dem Adjektiv« betitelten Eintrag aus Thomas Braschs bislang unveröffentlichten Tagebuchnotaten:
Das Adjektiv ist eine Erfindung der Leute, denen die Dinge nicht genug waren, wie sie waren. Es dient zur Verschleierung. Ein großes Pferd ist nichts vor meinem Auge, ein Pferd aber steht.
Es folgt nun eine durchaus konsistente Argumentation für diese Ansicht, bevor Brasch schließt:
Aus diesen Gründen muß das Adjektiv gekillt werden, wenn ich es treffe.
[Brasch, Thomas: Aus den Tagebüchern 1972–74. In: Sinn und Form 64 (2012), Nr. 2, S. 152–164; hier: 154f.]
Zur kurzen Einführung: Terry Pratchetts Romane spielen in einer fiktiven »Scheibenwelt«, die als Grundlage sehr verschiedener Serien zu verstehen ist. Zu diesen gehören Zauberer-Romane, Hexen-Romane, Tod-Romane etc. (Näheres zum Beispiel hier, etwas weiter unten). Haupstadt der Scheibenwelt ist Ankh-Morpork – chaotisch, anarchisch, lebensvoll.
Die Romane Pratchetts werden häufig als Fantasy bezeichnet, sie werden von diesem Begriff aber nicht erfasst, weil wesentliches Bestandsstück der heroischen Fantasy im Regelfall ihre absolute Ironieferne ist, was sie mit der Science-Fiction-Literatur gemeinsam hat. Was Douglas Adams dann für die letztere geschafft hat – sie mit Witz und programmatischer Unernsthaftigkeit für Menschen lesbar zu machen, die Science Fiction ansonsten verabscheuen –, ist Pratchett mit der Fantasy schon längst gelungen – bzw. hätte ihm gelungen sein können, wenn denn nicht viele potentielle Leser leider dem Etikett (oder den zum Teil üblen Buchumschlaggestaltungen) mehr Vertrauen schenkten denn ihrem eigenen Leseerlebnis.
So wie der Leser etwas verpasst, wenn er Stephen King nicht liest, weil er nicht an den Horrorelementen vorbei auf das Wesentliche schauen mag, geht es ihm auch, wenn er in den Wachen-Romanen auf Trolle, Vampire, Werwölfe, Zwerge etc. stößt und schon deshalb nicht weiter liest.
Die Wachen-Romane schildern die Erlebnisse Sam Vimes', des Chefs der Nachtwache Ankh-Morporks, und seiner Leute. In ihnen und den ihnen begegnenden Geschehnissen – häufig in Form einer Krimihandlung – spiegelt Pratchett unsere Welt und ihre Zeitläufte – und zwar auf humoristische, und das heißt: oberflächlich leichte und oft komische, innerlich letztlich aber oft bittere Art und Weise.
Zwei Zitate aus dem bislang letzten Buch der Wachen-Reihe, Thud! (deutsch: Klonk!):
Es geht um die Frage der Verhörpraktiken in einer gewaltbereiten Stimmung – Trolle und Zwerge rüsten sich in fundamentalistischer Verbohrtheit auf eine Schlacht gegeneinander –; Vimes denkt
»And he was not certain, not certain at all, what he'd do if the prisoner gave him any lip or tried to be smart. Beating people up in little rooms ... he knew where that led. And if you did it for good reason, you'd do it for a bad one. You couldn't say 'we're the good guys' and do bad-guy things.« (256)
– muss man mehr sagen zur Debatte um das absolute Folterverbot?
An anderer Stelle wird ein die Kraft der Magie auf der Scheibenwelt beschrieben: die Zauberer haben Vimes eine Kutsche beschleunigt (bis auf dieses Ereignis sind die Wachen-Romane so gut wie frei von Zauber) und ein Extra-Pferd angeschirrt (es folgt eine irrwitzige Verfolgungsjagd). Ich weiß, Zauberergeschichten sind etwas für kleine Kinder. Aber auch ihnen kann man platonische Ideen so erklären:
»And there was a fifth horse, larger than the other four, and transparent. It was visible only because of the dust and the occasional glint of light off an invisible flank; it was, in fact, what you got if you took away a horse but left the movement of a horse, the speed of a horse, the ... spirit of a horse, that part of a horse which came alive in the rushing of a wind. The part of a horse that was, in fact, Horse.« (311)
Es sind dies zwei von sehr vielen Stellen – witzigen und ernsten, lustigen und schönen – in unterhaltsamen Geschichten, die unter anderem vom Ausgang des Golems aus der gar nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit, von der Emanzipation eines weiblichen Zwergs, von falsch verstandenem Heldentum, von den Schwierigkeiten des Nichtzuhauseseins im eigenen Körper am Beispiel eines Werwolfs, von blinder, braver Diensterfüllung im Namen des Bösen, von Rassismus gegenüber Trollen und so weiter handeln. – Offenbar also reine weltflüchtige Fantasy, die so gar nichts mit unserem Leben zu tun hat.
Lest Pratchett: es ist ein weiser Mann.
Die Bücher der Wachen-Reihe in der Reihenfolge des Geschehens (in der sie auch gelesen werden sollten) bei Amazon ansehen:
Stephen King: Das Monstrum. »Tommyknockers«. München: Heyne, 1991.
Glaubt man den Kundenrückmeldungen bei Amazon, ist dies ein schwächeres Werk Kings. Mag sein. Tatsächlich enthalten auch die schwächeren Werke Kings immer noch eine ganze Menge mehr an Leben als große Mengen der ernsten und hochgelobten Literatur. Dafür muss man dann ggf. an in Flammen stehenden Haaren, im Todeskrampf sich windenden zombieähnlichen Kreaturen, großen Mengen grünen Schleims als Nährlösung für als Batterien genutzten Feinden des Systems, platzenden Augäpfeln, zerschossenen Knöcheln etc. vorbeilesen. Das ist genrespezifischer Trash, als solcher natürlich schlecht und Grund genug, um King nicht zu mögen.
Wer King aber deswegen ignoriert, verpasst auch den grimmigen Humoristen: die sich durch den Einfluss eines neuentdeckten Raumschiffartefakts verändernden Kleinstädter erfinden Maschinen zur Zerstörung ihrer Gegner, bedienen sich dabei aus der Alltagstechnik – und so wird uns geboten der Aberwitz fliegender Colaautomaten als Hüter der Kleinstadtgrenzen, ein schwebender Rasentraktor und derlei mehr. Das Schrille, Bedrohliche, Tödliche zeigt sich hier – wie bei King oft – dem Normalen inhärent.
Interessant wird es auch, wenn King Gesellschaft schildert: den Kampf der Frau gegen ihren Mann, der hier – dem destruktiv-inventorischen Furor gemäß – in der Nutzung des Hochspannungsteils des Fernsehers sein Ende findet oder der genau gezeichnete Unterschied zwischen öffentlich verlautbarten Bekundungen (»Wir lieben Ruth alle«) und tatsächlich still-bedrohlichem, letztlich zum Suizid der Verfolgten führenden Handeln einer gleichgeschalteten Menge Mensch, die zwar nicht durch gelbe Schuhe, dafür aber mit Lücken im Gebiss gekennzeichnet wird.
Kings Sympathien sind dabei immer beim Individuum. Und dabei ist beeindruckend seine Zärtlichkeit, mit der er die resignierte Machtlosigkeit des kleinen Bruders schildert, der weiß, dass das neuerfundene Zauberkunststück des großen Bruders ihm nicht gut tun wird, ebenso wie die überzeugende Darstellung des Anti-Atomkraftaktivisten, der auf einer Party für einen Eklat sorgt, indem er grausame Wahrheiten ausspricht, die den Horrorphantasien Kings in nichts nachstehen, aber möglich sind und des Profits wegen in Kauf genommen werden.
[Mit Alexander Kluges Die Lücke, die der Teufel läßt bin ich ja immer noch nicht fertig. Aber die Schilderungen über den Umgang mit dem Unfall in Tschernobyl seien schon jetzt jedem zur Lektüre empfohlen, der noch einmal darüber nachdenkt, ob nicht die Atomkraft doch die sauberere Alternative sei …]
Und der Protagonist eben dieses Skandälchens ist auch der des Buches: ein Loser (King ist immer auf der Seite der Loser), ein schwacher Mensch (King ist …), ein Alkoholiker – der gleichwohl aufgrund einer medizinisch indizierten Immunität gegen die vom Raumschiff ausgehende Beeinflussung als einziger die Kraft besitzt, gegen die erstarkende Macht im Kleinstädtchen zu bestehen. Seine Zweifel, die Ängste des Verfolgten in einer ihm gegenüber einigen und offen zerstörerischen Gesellschaft, schildert King wieder ganz überzeugend.
Tscha, was bleibt?: lesen, natürlich. Seht ihn Euch an –