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Gelesen. Enrigue.

Álvaro Enrigue: Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles. Übertragen von Carsten Regling. München: Blessing, 2021.

Eine Mexikanerin wird von Apachen entführt. Gokhlayeh, »der Gähnende«, bekannter als Geronimo, ergibt sich. US-Militärs werden für ihren Sieg über die Apachen gefeiert. Ein Schriftsteller in heutiger Zeit fährt mit seiner Familie auf Spurensuche in die Chiricahua-Berge. – Nur einige der vielen Handlungsstränge, mit denen Enrigue ein reich facettiertes Bild vom Ende der Apachería zeichnet: eines grenzenlosen Lebensraumes, der mit der Festlegung der Grenzen zwischen den USA und Mexiko, aber auch ihren jeweiligen Binnenstaatsgrenzen aufgrund des Beherrschungswahns der neuen Regierungen keiner mehr sein durfte, denn eine Koexistenz zwischen den Apachengruppen und den Mexikanern bzw. den »Gringos« schien ihnen undenkbar.

Das Buch verlangt der Leserin einiges an Aufmerksamkeit ab, denn der Erzählfokus wechselt munter zwischen Zeiten, Räumen und Figuren, aber insgesamt scheint eine treffende Interpretation der historischen Ereignisse in ihrer völkermordenden Brutalität geliefert zu werden; Enrigue gelingt es auch, erzählerisch die unterschiedlichen Stränge zu einem überzeugenden (damit natürlich nicht positiven) Ende zu bringen.

Auch dies Aufbewahrungs-, Dokumentations-, Erklärliteratur: wie in Thomes Gott der Barbaren wird der Einbruch der (bei Enrigue zumindest ursprünglich) europäischen Mächte in die Kulturen der neu entdeckten Welten gezeigt: bei Thome der Beginn einer Eroberung, bei Enrigue das Ende – ein Genozid, die Auslöschung einer Kultur.

Gelesen. Thome.

Stephan Thome: Gott der Barbaren. Berlin: Suhrkamp, 2018.

Kenntnis- und lehrreicher Roman über die Opiumkriege (Erster, Zweiter): Philipp Neukamp zieht nach der 1848 gescheiterten Revolution in Deutschland als (wenig überzeugter) Missionar nach China und begegnet dort neben vielen anderen missionarisch Tätigen unter anderem Vertretern der sich als christlich verstehenden Taiping-Rebellen, die in Nanking eine Gegenhauptstadt installierten. Andere wichtige Figuren, aus deren Sicht wir das Geschehen erzählt bekommen, sind Lord Elgin, oberster Vertreter der englischen Krone, und Zeng Guofan, der Oberbefehlshaber der Hunan-Armee. Geschildert wird sowohl der innerchinesische Konflikt zwischen den Rebellen und der Regierung in Peking als auch der imperialistische Krieg einer Koalition europäischer Mächte (England steht im Fokus, Frankreich und Russland werden als weitere Parteien genannt). Letztere schließen ihre Friedensverträge (die eher Kapitulationserklärungen sind) ausschließlich mit der offiziellen Regierung ab.

Kein Handelnder (und es sind mit unbedeutenden Ausnahmen ausschließlich Männer) handelt frei von Selbstzweifeln – diese verhindern aber weder die Kriegsführung an sich noch das massenhafte Massakrieren von Zivilisten (ganze Stadtbevölkerungen werden enthauptet). All dies wird als Arbeit einer Maschinerie dargestellt, die durch die Einzelnen scheinbar nicht aufzuhalten ist und doch durch genau ihre Entscheidungen am Laufen gehalten wird.

Beeindruckend geschildert wird vor allem die Überzeugung der kolonialen Akteure, aus vollem Recht überall in der Welt fragwürdige Heilslehren zu verbreiten, Rauschgifte ins Land zu schmuggeln, Handelsposten einzurichten und im Interesse dieser Zwecke alle lokalen Hindernisse niederzuwalzen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass der Widerstand gegen die fremden Herren ein berechtigter sein könnte.

Am Ende des Buches wird die Brücke geschlagen zu heutigen christlichen Bewegungen, die als »üble Kulte« von der chinesischen Regierung bekämpft werden und als in der Tradition der Taiping-Rebellen stehend verstanden werden können. Nicht benannt wird von Thome die Außenpolitik Chinas, die natürlich ähnlich von der Kolonialerfahrung geprägt ist.

Der Schwerpunkt liegt hier eher auf Historie als auf Literatur – gleichwohl ein sehr lesenswertes Buch.