Skip to content

Mettenhof und der Weiße Riese.

Über die Geschichte des Weißen Riesen, des größten, zudem solitär plazierten Hochhauses im Kieler Trabantenstadtteil Mettenhof, berichtet eine bebilderte Reportage in den Kieler Nachrichten.

Gerade letztens erst tauschten wir uns unter Kolleg_innen über das Bild Mettenhofs aus, das im Regelfall nach wie vor negativ ist.

Was einem in Mettenhof passieren kann? Zunächst, dass man zur Kenntnis nehmen muss, dass es nicht allen Menschen so gut geht wie einem selbst. Oh, und dass die Zahl dieser Menschen vielleicht sogar recht groß ist. Geprägt wird der Stadtteil nun einmal nicht durch seine vergleichsweise angenehmen ins grüne Umland auslaufenden schmalen Ränder, sondern durch die hochgeschossige Wohnbebauung im Zentrum. In diesen wohnen viele, die anderenorts keine Möglichkeit dazu bekommen. Sie werden von denen verurteilt, die sie nicht unter sich haben wollen. Segregation über Finanz- und Sozialstatus, heute vermutlich auch über den Klang des Nachnamens.

Was ich früher in Mettenhof gelernt habe? Lesen, Schreiben und Rechnen. Dass man auf der Straße nicht unbedingt sicher ist.11: Allerdings vermute ich, dass kleine Jungs überall auf der Welt genau wissen, welchen Bullies sie auf dem Schulweg aus dem Weg gehen sollten, um nicht bedroht, drangsaliert, beraubt, geschubst oder verprügelt zu werden. Dass man sich später daher soweit wie möglich gegenseitig nach Hause bringen und ansonsten für schnelle Fahrräder sorgen sollte. Dass ein alter Bauernhof (in den Achtzigern noch deutlich ungeordneter und für uns zugänglicher) ein Refugium zwischen den hohen Häusern sein kann. Dass man sich kümmern muss, wenn was passieren soll. Dass die alte Eiche ein guter Treffpunkt für die loser ist. Den Geruch von Aufzügen und das Wort »Otis«. Wohin man abhauen kann. Dass Zivilisation nicht selbstverständlich ist. Dass man vom Weißen Riesen bis zur Landstraße zwischen Feldern keine zehn Minuten braucht. Dass es einen sehr guten Lehrer gibt. Viele bemühte Lehrpersonen. Einige schlechte. Wie viele Kinder es gibt. Nicht aufzufallen. Welchen stillen Bildungserfolg eine zunächst provisorische, dann fest eingerichtete, aber immer fortschrittliche Stadtteilbücherei im Schulgebäude befördern kann. Dass man Viertel wie diese nicht sich selbst überlassen darf. Dass die richtigen Menschen zu treffen Glück ist. Dass Architektur schaden kann. Dass in den feineren Häusern auch seltsame, in den einfachen auch großartige Menschen wohnen. Die Zeit zu lesen. Welche Straßen besser nicht zu betreten sind, welche Straßenseite die bedrohlichere ist. Stoizismus. Pragmatismus.

Gesehen. Stranger Things: #StrangerThings


[Spoilergefahr.]

Bereits die zweite Staffel einer Fernsehserie, die schon in der ersten von Anfang an überzeugte: oberflächlich ein Retro-Science-Fiction-Horror-Vergnügen, tatsächlich vermutlich auch deshalb so mitfühlend und begeistert aufgenommen, weil ganz grundlegende Themen verhandelt und in positivem Sinne gelöst werden; dies zudem vorgestellt von einem wohlausgewählten Ensemble von Schauspieler_innen, die jeweils hervorragende – gerade im Falle der Darsteller_innen im Kinder- bzw. Jugendalter außergewöhnliche – Leistungen zeigen. In erster Linie zu nennen sind da die Freunde Finn Wolfhard (Mike), Caleb McLaughlin (Lucas), Gaten Matarazzo (Dustin) und Noah Schnapp (Will) sowie vor allem Millie Bobby Brown (Eleven), die aufgrund ihrer textarmen Rolle eines vorsichtig-zurückhaltenden Charakters besonders gefordert ist. Dass die in der zweiten Staffel hinzutretende Sadie Sink (Max) zu den bislang genannten aufschließen kann, sehe ich noch nicht als gesichert. Aber auch die Erwachsenenrollen sind ausnehmend gut besetzt – vor allem Winona Ryder (Joyce) zeigt hier als alleinerziehende Mutter beachtlich Expressives. Zwischen den Erwachsenen und den Kindern bewegen sich noch die Jugendlichen – Mikes große Schwester Nancy, Steve, Jonathan und ein paar unwichtigere Figuren. In allen Fällen aber ist das Casting großartig.

Obwohl Kinder im Zentrum des Geschehens stehen, ist die Serie – anders als die ausführlich referenzierten Filme Stand By Me, E. T., Goonies etc. – nicht primär an Kinder gerichtet; einige Szenen sind denkbar ungeeignet mindestens für unter zwölfjährige. Die Zielgruppen sind unterschiedlich popkulturell geprägte: zum einen diejenigen, die 1983 bzw. 1984 im Alter der Figuren waren und daher vieles wieder erkennen oder zu erkennen glauben: schon der Blick dieser unserer Generation ist ja keine unmittelbare Erinnerung, sondern ein durch Videos, Filme bzw. Filmstills geprägtes Bild der Zeit. Wir kennen nun einmal keine Kleinstadt in Indiana (obwohl uns so vieles vertraut scheint), sondern vielleicht eine bei Castrop-Rauxel, kennen vielleicht Bielefeld, Villingen-Schwenningen oder Mettenhof. Allerdings sind uns auch fast ebenso vertraut medial vermittelte Bilder von Kindheiten in den USA, die anschlussfähig waren aufgrund der universalen Konstellationen und der mit ihnen einhergehenden Probleme, in denen Kinder zumindest in allen westlich geprägten Gesellschaften aufwachsen: Erfahrungen von (von einer Majorität) ausgegrenzt und (mit einer Peergroup) vertraut Sein, Austarieren von Gruppendynamiken und gruppeninternen Konflikten, Auseinandersetzungen mit Autoritäten, Gefahren jedweder Art (und der fiese große Junge von nebenan ist eben auch nur ein Monster) etc. Zum anderen sind angesprochen Jugendliche und jüngere Erwachsene, die gerade aus Film & Fernsehen, aber auch aus anderen Medien die Verweis- und Zitatkultur schätzen gelernt haben und so als Kenner angesprochen werden können, ohne dass sie tatsächlich unmittelbar Betroffene wären; die drei vorher genannten Gruppen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) bieten vielfältige Identifikationsmöglichkeiten.

Dieser ganze Retrokram ist dabei klasse gemacht und bereitet viel Spaß – ob man den Spuren von Postern (z. B. Jaws, Apple), Technik (z. B. Walkie-Talkies, VCR), Musik (z. B. The Clash, Joy Division, Police), Filmen (z. B. Poltergeist, The Fog) oder allgemein Ausstattung (Frisuren, Kleidung, Möbel etc.) nachgeht: das ist alles mit viel Zuneigung zum Detail gestaltet und macht natürlich Laune.

Mindestens die erste Staffel schwelgt dabei im behaglichen Jungsmodus: Eleven wird als Monster wahrgenommen und benannt, ist damit das vielleicht nicht nur aus entwicklungspsychologischer Sicht verständlicherweise Fremde; da sie Ausnahmekräfte hat, bleibt sie das auch bedrohliche Andere.11: Übrigens auch in der zweiten Staffel angedeutet: El will sich zu Halloween als Geist verkleiden – die Jungs gehen als Ghostbusters … Die Übereinstimmung mit ästhetischen Normen (und damit auch Geschlechterrollen) wird ihr gegenüber mehrfach thematisiert; Mike lobt ihr Aussehen als »pretty«22: … und relativiert es seines Ansehens bei seinen Freunden wegen zunächst in »pretty good«, bevor er das Lob später wiederholt., als sie sich aus Tarngründen ihren rasierten Kopf mit einer Perücke bedecken und Mädchenkleidung tragen muss; was allerdings die Zuneigung Mikes wachsen lässt, ist vielleicht gerade das Jungskompatible: sie ist eben nicht das typische Mädchen, sondern ein kumpelhaftes, eher maskulines, starkes. Und so bestärkt Mike sie auch später, dass sie die Perücke, die sie verloren hat, nicht braucht, um »still pretty« zu bleiben.

In ähnlicher Weise ist in der zweiten Staffel auch Max trotz ihrer langen Haare ein Tomboy, denn sie punktet in wichtigen Jungskategorien: Videospiele, Skateboard- und schließlich sogar Autofahren. Und auch wenn die Jungsperspektive selten verlassen wird und Klischees der Zeit übernommen werden, zeigen sich auch immer wieder Brüche: Nancy, die dem Schönling der Schule verfällt, kann besser schießen als Jonathan, ihre Mutter Karen ist diejenige, die das Familienleben regelt (während der Vater, grundsätzlich unbeteiligt, schon mit dem bloßen Existieren ausgelastet zu sein scheint), etc.

Und: sieht man von der oben benannten Perspektive ab, haben die Duffer Brothers mit der kurzgeschorenen Eleven eine für die Geschichte zentrale, ikonische starke Mädchenfigur geschaffen, die ihresgleichen sucht, und offenbar geschlechterübergreifend als Identifikationsfigur angenommen wird. Gerade auch in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen traumatischen Geschichte und in der Auswahl zwischen verschiedenen angebotenen »homes« des für sie richtigen, in der Entscheidung gegen die Rache um jeden Preis, aber für die rückhaltlosen Einsatz für ihre Freunde zeigt sie sich als eine sensible und doch entschlossene Kämpferin.

Die den Horroranteil ausmachenden zu bekämpfenden Monster sind bei all dem eigentlich gar nicht so wichtig: ob man sich vor den Bullies oder dem Demogorgon in acht nehmen muss, vor dem aggressiven Stiefbruder oder eher vor noch größeren Gefahren, ist irrelevant, weil austauschbar potentiell lebensgefährlich; im Hinblick auf die Konstruktion der Geschichte geht es um die Frage, auf wen man sich in welchem Maße verlassen kann. Und da können die Unscheinbaren, vermeintlich Schwachen, die loser im gemeinsamen Miteinander immer wieder bestehen.33: Die Ähnlichkeit dieser Konstellation zu Kings Es – inklusive der Moral – ist natürlich auch nicht zufällig. Und auch wie bei King (Eddie Kaspbrak – Mutter) kann die eigentlich positive Liebe der Eltern zu ihren Kindern auch umschlagen in ein Zuviel derselben, etwa, wenn Joyce aufgrund der Erfahrungen, die in der ersten Staffel gezeigt werden, Will anschließend ein wenig zu sehr behütet. Dass alles Behüten denn auch nicht hilft gegen die Gefahr, liegt bei Joyce und Will in der Natur des Horrorfilms, bei Hopper und Eleven in der Natur des Coming-of-Age-Films. Auch diese Regel aus dem einführenden D&D-Spiel darf auf das Ganze übertragen werden. –

Insgesamt eine astreine Serie, die mittels starker Figuren in überzeugenden Bildern zwischen archetypischen Auseinandersetzungen auf der einen sowie freundschaftlicher Unterstützung und zarten Annäherungen auf der anderen Seite das Gute – Freundschaft (»friends don’t lie«), Verlässlichkeit (»Promise?« – »Promise!«), Liebe (»someone that you like – not a friend«) – als das zu erreichende Ideal beschwört.