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Gelesen: Proust. VII.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 7: Die wiedergefundene Zeit. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2016.

Technische Daten des siebten Bandes: 610 Seiten, davon 502 Text, der Rest Anhang (Anmerkungen, Inhaltsübersicht, Namensverzeichnis etc.). Wie seit dem zweiten Band stets mit zwei Lesebändchen; fadengeheftet. Wie die letzten Bände auch vorbildlich lektoriert.

Der vorherige Band ließ Marcel in Tansonville zurück; hier setzt der siebte wieder ein. In den Gesprächen beispielsweise mit Gilberte und Robert spielt immer wieder die Homosexualität des letzteren eine Rolle, deutlicher noch als in früheren Bänden, wobei Gilberte eher feiert, was Robert nach wie vor verleugnet.

Das zweite Kapitel spielt während des Krieges, von dem düstere Eindrücke geschildert werden, mit Rückblicken in frühere Zeiten; Marcel entdeckt Monsieur de Charlus in einem Hotel, in dem dieser, ausgestoßen aus der »guten« Gesellschaft, sich inmitten einer haremartigen Gesellschaft junger Männer bezahlten masochistischen Erniedrigungen hingibt, verraten und als Allemande verleumdet von Morel, seinem früheren Gespielen, der sich nun einen eher gesellschaftskompatiblen Rahmen geschaffen hat. Auch erfahren wir (posthum), dass M. de Charlus den Mord an Morel geplant hatte und nur durch dessen Fortgang von der Ausführung abgehalten wurde.

Das dritte Kapitel, »Matinee bei der Prinzessin de Guermantes«, führt Marcel schließlich in seine alte gesellschaftliche Welt zurück, allerdings sieht er sie deutlich gealtert, was ihn erkennen lässt, dass auch er kein junger Mann mehr ist, obwohl er sich selbst noch so sah. Als er über einen Pflasterstein stolpert, erinnert er sich an den Aufenthalt in Venedig; diese Assoziation wiederum lässt ihn über den Wert und die Funktion von Erinnerung und ihren Bezug zur Literatur nachsinnen und letztlich auch den Entschluss fassen, sein Leben in seinen Empfindungen niederzuschreiben. Die Gesellschaft scheint ihm inzwischen wie ein Maskenball, früher Bekannte, Vertraute oder gar Geliebte erkennt Marcel kaum mehr wieder; erneut wird der Snobismus und die Dünkelhaftigkeit der Gesellschaft demaskiert, während Marcel sich in die Vergangenheit erinnert. Bedroht vom Gedanken an den möglichen Tod noch vor Abschluss seines Werkes wird dieses begonnen. –

Den letzten Band des Werkes habe ich sehr langsam gelesen; einerseits anderer Lektüren wegen, andererseits, weil die Suche damit beendet ist. Die Lektüre ist dabei ganz gegensätzlich: in den Passagen um Charlus werden die Ereignisse und Eindrücke vergleichsweise fast reportageartig dicht am Geschehen erzählt, in anderen – etwa wenn es um das Thema Erinnerung geht – reihen sich seitenlang bedenkenswerte Reflexionen aneinander, etwa wenn es um Eindrücke geht, an die sich Marcel wieder und wieder erinnern möchte –

Die einzige Art, sie [die Eindrücke] ausgiebiger zu genießen, bestand in dem Versuch, sie dort, wo sie sich befanden, gründlicher kennenzulernen, also in mir selbst, sie bis auf den tiefsten Grund auszuleuchten. Ich hatte das Vergnügen in Balbec nicht kennenzulernen vermocht und auch nicht im Zusammenleben mit Albertine, vielleicht war es für mich erst nachträglich erkennbar geworden. [Ebd., 263]

– nicht allein der Sentimentalität wegen, sondern um sie ganz zu begreifen; als sei das Hin- und Herwenden der Erinnerungen, das Betrachten aus allen Perspektiven ein Mittel, sie auch rational begreifbar und literarisch bewahrbar zu machen.

Was die Zeit aus den Menschen macht und wie Marcel dies wahrnimmt, lässt sich exemplarisch an der Begenung mit seiner früheren Liebe Gilberte zeigen:

Eine dickliche Dame wünschte mir einen guten Abend, und während dieser kurzen Zeit drängten sich die verschiedensten Gedanken in meinem Geist. Ich zögerte einen Augenblick, ihren Gruß zu erwidern, in der Befürchtung, sie könnte mich, da sie die Leute nicht besser erkannte als ich, für jemand anderen halten, dann jedoch brachte mich ihre Sicherheit aus Angst, sie könnte jemand sein, mit dem ich eng befreundet gewesen war, ganz im Gegenteil dazu, die Liebenswürdigkeit meines Lächelns übertreiben, während meine Blicke weiter in ihren Zügen nach dem Namen suchten, den ich nicht finden konnte. Ähnlich unsicher wie ein Kandidat bei der Abiturprüfung seine Blicke auf das Gesicht des Prüfers heftet in der vergeblichen Hoffnung, dort die Antwort zu finden, nach der er besser in seinem eigenen Gedächtnis gesucht hätte, heftete ich, während ich sie weiter anlächelte, meine Blicke auf die Züge der dicklichen Dame. Sie schienen mir diejenigen von Madame Swann zu sein, und so mischte sich Respekt unter mein Lächeln, während meine Unsicherheit zu schwinden begann. Dann, eine Sekunde später, hörte ich die dickliche Dame zu mir sagen: »Sie haben mich für Maman gehalten, und tatsächlich fange ich an, ihr ziemlich ähnlich zu sehen.« Da erkannte ich Gilberte. [Ebd., 407]

In all der Distinguiertheit des Tons: wie vernichtend dieser Blick Marcels! Unerträglich, wenn er nur die anderen beträfe, doch an anderer Stelle (die ich gerade nicht wiederfinde) seziert er anhand vieler Beispiele, wie sein Selbstbild als nach wie vor junger Mann mit dem Fremdbild als »Väterchen« und »alter Mann« konfrontiert wird.

An anderer Stelle geht es um die Popularisierung von Literatur:

Die Idee einer populären wie auch einer patriotischen Kunst erschiene mir, wenn sie nicht so gefährlich wäre, einfach lächerlich. Wenn es darum ginge, sie dem Volk zugänglich zu machen, indem man die formalen Feinheiten opferte, die nur »gut für Müßiggänger« sind, so hatte ich Erfahrung genug im Umgang mit Leuten von Welt, um zu wissen, dass sie die eigentlich Ungebildeten sind, und nicht die Elektriker. Insofern wäre eine über die Form popularisierte Kunst eher etwas für die Mitglieder des Jockey-Clubs als für die der Gewerkschaft; und was die Themen betrifft, so werden die Leute aus dem Volk von den volkstümlichen Romanen ebenso sehr gelangweilt wie Kinder von den eigens für sie geschriebenen Büchern. [278 f.]

Wie auch immer: nun, da ich zuletzt von Marcels Planung des Vorhabens gelesen habe, dessen Ergebnis die vorherigen Bände darstellten, würde ich gern gleich wieder von vorn beginnen. Meinen ersten Band las ich im Januar 2015, ohne allzu viel über das Werk zu wissen; zwei Jahre vergingen über der Lektüre, weil ich die bewundernswürdige Arbeit des Übersetzers erst abwarten musste. Eine erneute Lektüre wäre also dringend angebracht und ich würde sie auch gern unternehmen, wollten nicht andere Bücher auch gelesen werden. So verschiebe ich sie denn auf später – aber sie wird kommen:

was für ein Buch!

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Gelesen (und lesend): Proust. VI.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 6: Die Entflohene. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2016.

Technische Daten des sechsten Bandes: 476 Seiten, davon 395 Text, der Rest Anhang (Anmerkungen, Inhaltsübersicht, Namensverzeichnis etc.). Wie seit dem zweiten Band stets mit zwei Lesebändchen; fadengeheftet. Wie die letzten Bände auch vorbildlich lektoriert.

Die Entflohene liest sich vergleichsweise wie eine Erzählung – allzu schmal ist der Band insgesamt, und auch Marcel fasst sich über weite Strecken vergleichsweise kurz.

Thema des ersten Kapitels »Kummer und Vergessen« ist Marcels Reaktion auf Albertines Weggang, wozu die Reflexion des Zustands, Nachforschungen über ihr Vor- und Nebenleben (wozu vor allem Albertines Erlebnisse mit Freundinnen und Zufallsbekanntschaften gehören), aber auch Versuche zählen, sie wiederzugewinnen. Diese allerdings sind – wie man sich nach den Beispielen für die Beziehungsunfähigkeit Marcels vorstellen kann – grundsätzlich dysfunktional und verlaufen stets nach dem Schema »Wenn ich ihr nur überzeugend vermittle, dass ich sie nicht brauche und mir nichts an ihr liegt, wird sie schon erkennen, dass sie zu mir zurückkehren muss.« Das gelingt natürlich nicht allzu schnell, und letztlich vereitelt ein tödlicher Reitunfall Albertines ihre Rückkehr.

In »Mademoiselle de Forcheville« begegnen wir Gilberte wieder – eine weitere verflossene Liebe, wie man sich erinnern kann – und Marcel bekommt weitere ihn beunruhigende Details über das Liebesleben Albertines berichtet.

Im »Urlaub in Venedig« erfährt Marcel von der Ehe Gilbertes mit Saint-Loup, später – in »Eine neue Seite an Robert de Saint-Loup« – ihrer Schwangerschaft, ebenso aber von dessen Homosexualität.

Verglichen mit vorigen Bänden überstürzen sich die Ereignisse geradezu, und die neuen Erkenntnisse Marcels über seine Freundinnen und Freunde werfen (erneut) ein fragwürdiges Licht auf seine Wahrnehmungsfähigkeit: so übertrieben er jede eigene Regung reflektiert, hin- & herwendet, aus allen Richtungen betrachtet, um schließlich doch zu einem anderen (oder doch noch einmal zu einem zu revidierenden, nun aber endgültigen (obwohl: da ist noch …)) Ergebnis zu kommen, so sehr entgeht ihm doch stets Entscheidendes, weil sein Fokus geradezu gezwungen immer auf Anderes gerichtet ist. Die flirrende Vielfalt der Sinneseindrücke und Empfindungen sowie die Konzentration auf gesellschaftliche Konventionen überdeckt das Wesentliche, das gleichwohl an allen Ecken & Enden hervorlugt und einfach nicht verborgen bleiben will. Marcel erscheint damit als programmatisch unzuverlässiger Erzähler: wir folgen ihm, und wie zufällig deutet er auf das, was ihm die ganze Zeit entgangen.

Band VII – der letzte! – läge schon neben dem Lesesessel, ist aber leider in der Neuübersetzung erst für Oktober 2016 angekündigt.

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Gelesen (und lesend): Proust. V.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 5: Die Gefangene. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2015.

Technische Daten des fünften Bandes: 727 Seiten, davon 566 Text, der Rest Anhang (Anmerkungen, Inhaltsübersicht, Namensverzeichnis etc.). Wie seit dem zweiten Band stets mit zwei Lesebändchen; fadengeheftet. Wie die letzten Bände auch vorbildlich lektoriert (allein auf Seite 338 scheint mir ein Komma überflüssig).

Die Gefangene ist gleichzeitig der erste Teil von Sodom und Gomorrha III, was die Sache mit der Nummerierung nicht einfacher macht. Ohnehin könnte der eine oder die andere, bislang die Auffassung vertretend, »hohe Literatur« sei das Wohlgeplante und -strukturierte, spätetens die Bemerkungen im wieder hervorragenden Anhang des Übersetzers und Herausgebers Bernd-Jürgen Fischers lesend ins Nachdenken geraten, denn dort erfährt man Vieles über Zufälle, nachträgliche Zuordnungen im Zuge von Editionen, über Doppelstellen, Leerstellen etc., sodass der Eindruck des Durchkomponierten wohl durch den des unübersichtlichen Schaffenswustes überschrieben werden muss. Auch, so Fischer, seien Die Gefangene und der Folgeband, Die Entflohene, zunächst als zusammengehöriges, aber vom großen Romanprojekt getrenntes eigenständiges Werk geplant gewesen, bevor sie dann als Teile der Suche begriffen und eingearbeitet wurden.

Leitspruch des Bandes könnte dieses Zitat sein:

Im übrigen ist die Liebe eine unheilbare Krankheit wie jene Veranlagungen, bei denen der Rheumatismus nur eine Ruhepause vergönnt, um epilepsieartigen Anfällen von Migräne Platz zu machen. (111)

Wurde Marcel am Ende des vierten Bandes deutlich, es sei »absolut notwendig, dass ich Albertine heirate« (733), schildert er im fünften nicht die Ehe (sie ist aufgrund der verschobenen Wiederholung Proustschen Erlebens im Fiktiven wegen auch nicht möglich), sondern nur das Zusammenleben anhand weniger exemplarisch zu verstehender Tage. Wie der Bandtitel schon andeutet, ist die Wohngemeinschaft belastet, denn Marcel sieht allerorten die Verlockungen anderer Damen, die nur darauf warten, Albertine verführen zu können. Das grundsätzliche Misstrauen (das Marcel ebenso oft wie verspürt wie er es auch selbst wieder zurückweist, um es danach nur umso heftiger zu empfinden) begleitet jeden Schritt Albertines, insbesondere, wenn es um die Freundschaft zu Mademoiselle Vinteuil geht. Mit detektivischem Spürsinn beobachtet Marcel Albertine, verstrickt sich dabei selbst in ein Geflecht von Lügen und Halbwahrheiten, wendet in langen (tatsächlichen und imaginierten) Gesprächen jede der Aussagen Albertines – und da diese wiederum nicht so ehrlich ist wie sie es sein könnte (wobei für den Leser häufig offen bleibt, was denn nun bei mehreren geäußerten Varianten die Wahrheit ist), stößt er auf manchen Widerspruch. Das geht natürlich nicht ewig gut, und so endet der Band auch mit der im Interesse der Freundschaft beschlossenen Trennung: Marcel wirft Albertine unmissverständlich freundlich aus dem Haus, dann – im Interesse eines allerletzten Versuchs – doch wieder nicht, und letztlich nimmt sie ihm die Entscheidung aus der Hand, indem sie eines Morgens abgereist ist. –

Hinter der feinen Fassade wieder viel Abgründiges, etwa über viele Seiten die zotigen Gesänge der Ladeninhaber (153 ff.), Neues und Bewährtes über Monsieur Charlus und so fort. Man könnte nun fragen, warum sich die Lektüre – die sich diesmal über einen langen Zeitraum erstreckt hat – lohnt. Ich würde sagen: aufgrund der Dichte des Beschriebenen. Wenn ich drei Wochen lang Proust nicht in die Hand nahm, brauchte ich es nur aufzuschlagen und war sofort wieder im Ton des Ganzen. Dabei ist es sicher nicht wichtig, sich jedes gesellschaftliche Geschehen im Detail zu merken – es kann rasch unter den üblichen Schlagworten à la Dekadenz und Dandytum subsumiert werden. Proust gelingt es aber immer wieder, episodenhaft Sachverhalte darzustellen, die in nuce Leben und Erkenntnis zeigen.

So, wenn er mal wieder über den alternden und von seiner Zeit überholten Schriftsteller Bergotte spricht. Dieser liest in einer Rezension über eine Ausstellung, Vermeer habe »ein kleines gelbes Mauerstück […] so gut gemalt […], dass es, wenn man es für sich allein, wie ein kostbares chinesisches Kunstwerk betrachte, von einer Schönheit ist, die sich selbst genügt« (249). Bergotte eilt in die Ausstellung und sieht das bisher noch nie so wahrgenommene

kostbare Material des ganz kleinen gelben Mauerstücks. Sein Schwindelanfall wurde schlimmer; er fixierte seinen Blick so wie ein Kind, das einen gelben Schmetterling fangen möchte, auf das kostbare kleine Mauerstück. »So hätte ich schreiben sollen«, sagte er. »Meine letzten Bücher sind zu trocken, ich hätte mehrere Farbschichten auftragen, meine Sätze an sich schon so kostbar machen müssen wie dieses kleine gelbe Mauerstück.« Indessen entging ihm nicht die Schwere seines Schwindelanfalls. In einer himmlischen Waage erschien ihm auf der einen Schale sein eigenes Leben, während in der anderen das so trefflich in Gelb gemalte kleine Mauerstück lag. Er spürte, dass er unbedacht das erstere für das letztere hingegeben hatte. »Vor allem möchte ich nicht«, sagte er sich, »in den Abendzeitungen als Sonstige Meldung von dieser Ausstellung erscheinen.« Er wiederholte bei sich: »Kleines gelbes Mauerstück mit einem Wetterdach, kleines gelbes Mauerstück.« Dabei brach er auf einem Rundsofa zusammen; ebenso plötzlich verließ ihn der Gedanke, dass sein Leben auf dem Spiel stehe, er wurde wieder optimistisch und sagte sich: »Das ist nur eine kleine Verdauungsstörung, die von diesen nicht völlig gar gekochten Kartoffeln kommt, das ist weiter nichts.« Ein weiterer Schlag traf ihn, er rollte von dem Sofa auf den Boden, wo ihn die herbeigeeilten Besucher und Wächter umstanden. Er war tot. (250)

Insofern: man kann sich Zeit lassen mit Proust. Zuweilen erscheint einem der Stil unerträglich – dann wieder von einer seltenen Poetizität; an so manchem Tag sagt einem das Gelesene wenig, an anderen scheint es sehr besonders. Es eilt nicht, und ich habe nur noch zwei Bände zu lesen (wenn Reclam auch einen Kommentar bereits angekündigt hat).

Band VI liegt schon neben dem Lesesessel.

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Gelesen (und lesend): Proust. IV.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 4: Sodom und Gomorrha. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2015.

(Schon vor einigen Wochen beendet, aber noch keine Zeit zum Verbloggen gefunden.)

Technische Daten des vierten Bandes: 890 Seiten, davon 733 Text, der Rest Anhang (Anmerkungen, Inhaltsübersicht etc.). Wie seit dem zweiten Band stets mit zwei Lesebändchen; fadengeheftet, latürnich. Wie die letzten Bände auch vorbildlich lektoriert.

Viele Motive und Themen werden erneut angesprochen und variiert: ob’s die Liebe zur inzwischen verstorbenen Großmutter ist, die Dreyfus-Affäre und ihre Beurteilung in der höheren Gesellschaft (und die damit verbundenen antisemitischen Vorbehalte), die Literatur oder die Kunst: wir sind inzwischen vertraut mit plauderndem Geplänkel wie mit erregt geführten politischen Diskussionen, mit langen Reflexionen über Haltungen und Entscheidungen, die wortreich erarbeitet und getroffen, ebenso gern aber nur wenige später wieder überzeugt revidiert werden. Also alles wie immer?

Nein. Mit einem (bereits angedeuteten) Paukenschlag beginnt dieser neue Band: Marcel beobachtet Baron de Charlus und Jupien bei gemeinsamem unerlaubten Treiben – was Anlass für vielfältiges Räsonieren über »Weibmänner«, »Invertierte« und die Herkunft der »Sodomiter« ist. Nichts davon ist natürlich als Prousts Auffassung ernst zu nehmen, sondern stellt nur die homophobe Sicht der Gesellschaft dar. Proust selbst habe, so Fischer im Nachwort, »gegenüber André Gide […] bedauert, dass er in SG nur noch die düsteren Seiten der gleichgeschlechtlichen Liebe habe zeigen können, da er die lichteren Aspekte bereits in Heterosexuelle transponiert in SJM dargestellt habe« (737). Dieses doppelte Spiel wird noch verfeinert, wenn Marcel schreibt

Wenn Monsieur de Charlus nicht von seiner Bewunderung für Morels Schönheit sprach, als stehe sie in keinerlei Beziehung zu einer Neigung, die als Laster bezeichnet wird, dann verbreitete er sich über dieses Laster, doch so, als sei es nicht entfernt das seinige. (624)

Eben dies ist das Vorgehen Prousts.

Ansonsten scheint es in der feineren Gesellschaft – wenn wir hier davon ausgehen, dass Proust ein zutreffendes Bild zeichnet – Usus gewesen zu sein, die Besonderheiten der Menschen hinzunehmen, wenn nur der Grund dafür nie öffentlich sichtbar oder zur Sprache gebracht wird: dass Monsieur de Charlus etwa auch in der Öffentlichkeit seine Lippen schminkt, um sich als alternder Liebhaber noch attraktiv zu zeigen, wird dies als Extravaganz akzeptiert, solange nie expliziert wird oder werden muss, warum dies geschieht, solange der Beobachtende nicht zugeben muss, dass er weiß, aber nicht anklagt; erst wenn gewisse Grenzen überschritten werden, Beziehungen oder Begehren öffentlich wird, wird das nun Offensichtliche zum Skandal (331 f.).

Marcel jedenfalls beobachtet und lernt, nimmt Verschrobenheiten, Schrulligkeiten wahr und spottet, ironisiert, wird zuweilen maliziös (beispielsweise wenn es um sprachliche Eigenheiten und tics geht, die er ausführlich beschreibt und auf die er gern immer wieder zurückkommt), sieht Annäherungen und Abneigungen, liebt natürlich wieder und ist eifersüchtig, beobachtet diese Regungen auch bei anderen und seziert sie aufs Genaueste (etwa im Spiel zwischen Cottard und Charlus (vgl. 440)) ist von Albertine so abgestoßen wie zu ihr hingezogen, dies umso mehr, als sie »eine Freundin von Mademoiselle Vinteuil und deren Freundin, einer professionellen Praktikantin der sapphischen Liebe« (713) ist, und die Marcel sich auch deshalb nolens volens in derartigen Beziehungen vorstellt.

Letztlich erkennt er vielleicht auch deshalb: »es ist absolut notwendig, dass ich Albertine heirate« (733).

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Gelesen. Kurzeck.

Peter Kurzeck: Übers Eis. Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern: 1997.

Wenn man erst einmal ins Lesen autobiographischer Erzählungen hineingerät, wird es schwierig, je wieder herauszukommen: Gustafssons »Risse in der Mauer« war schon eine Andeutung, mit Proust und Knausgård befinde ich mich mittendrin, und nur weil die Buchmesse in Frankfurt stattfindet und ich deshalb etwas Passendes zum Lesen mitnehmen wollte, der oben erwähnte (hauptsächlich in Frankfurt situierte) Band noch zuhause herumlag, weil ich ihn zwar begonnen hatte, wegen Nichtzurrechtenzeitzurhandgenommen und Sovieleanderebücherzulesen aber über die ersten drei, vier Seiten nicht hinausgekommen war, eröffnet sich mir nun ein weiteres Leseprojekt.

Dabei gilt nach dem, was ein guter Freund mir über andere Bücher Kurzecks (zumindest dieser ursprünglich auf zwölf Bände angelegten, aber leider bei fünfen abgebrochenen Reihe »Das alte Jahrhundert«) berichtete, vieles, was ich hier für diesen Roman sage, auch für andere:

Aus seinem Leben erzählt Peter (der Nachname wird zwar einige Male für Dritte buchstabiert, allerdings – wenn ich nichts übersehen habe – anders als der Vorname nie genannt), der sich im Jahre 1984 unversehens von seiner Freundin Sibylle getrennt erkennen und daher aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muss. Er findet eine behelfsmäßige Bleibe, sorgt etwa hälftig für seine Tochter Carina, versucht seinen Lebensunterhalt durch Schreiben zu verdienen, muss aber auf staatliche Unterstützung zurückgreifen. Verwoben mit der Darstellung des aktuellen Lebens werden Fragmente von Erinnerungen an frühere Geschehnisse und geradezu dokumentarische Aufnahmen alltäglichster Sachverhalte, Orte, Konstellationen. So weit, so banal – wie letztlich bei jedem autobiographischen Erzählen.

Das Besondere geschieht beim Einlassen auf den Strom.

Dann hat man sich zu ergeben dem Rhythmus eines Stakkatos von Eindrücken, zu schnell, als dass alle Sätze beendet werden könnten, sodass die letzten Wörter zuweilen. Gleichwohl evoziert Kurzeck durch die Anhäufung simpler Benennungen allein schon mit diesen Zeichen verbundene Assoziationen –

Ein Sommertag ist lang wie ein Jahr. Die Ampeln von rot auf grün. Musik. Zigaretten. Die Straße fängt an zu fahren. Alle Straßen fangen zu fahren an. Zubringer. Kreuzungen. Ausfallstraßen. Die Autobahn. Autobahnauffahrten, Autobahnabfahrten. Das Rollfeld, die Startbahn, der Luftraum, die Einflugschneisen. Ein Flugzeug schräg in die Höhe. Alle paar Minuten ein Flugzeug schräg in die Höhe. Ein anderes Flugzeug und setzt zur Landung an. Signale, Signaltürme, Lichtzeichen. Immer wieder ein Flugzeug, immer noch eins und alle setzen zur Landung an. RheinMain-Flughafen. Frankfurt Airport. Beton, der Stadtwald und Himmel, ein stiller Himmel, der allen und keinem gehört. Das Südkreuz, das Westkreuz, das Frankfurter Kreuz. Eisenbahnlinien, S-Bahnen, Bahnhöfe, Vororte, Dörfer, Vororte und die Vororte von den Vororten. Schrebergärten, Kasernen, Pferde, die Rennbahn, Sportplätze, Werkstätten, Tankstellen, Einkaufszentren, Friedhöfe, Lagerhallen, Fabriken, Industriegelände, ein Kornfeld, Gewerbegebiete, Rechtecke, Würfel, Bauklötze, Grundrisse, Häuser, Neubausiedlungen, Bauland, Bauerwartungsland, Bauerschließungsgebiete, Bauplätze, Baustellen, Baustellen. Sommer, der Sommer, Sommerzeit. Gegenwart. Im Sommer ein Nachmittag. Erst Juli und dann August. Kornfelder, Wiesen, der Taunus. Von Bad Nauheim, von Ockstadt, von Friedberg bis nach Bad Homburg, Oberursel, Bad Vilbel. Von Bergen nach Kriftel, nach Hofheim, nach Kelkheim, nach Hochheim. Am Südrand, den Taunus entlang. Bis nach Wiesbaden. Den Taunus, den Main entlang. Überall Obstbäume. Die Kirschen schon abgeerntet? Die Pflaumen, die Mirabellen, die Äpfel und Birnen. Jede Einzelheit. Alles ganz deutlich. Die Früchte an jedem Baum. Und werden jetzt reif. Bei Hochheim der Wein auf den Hängen. Heiß ist es. Feldwege. Die Rheinebene. In der Hitze flimmert das Licht. An Höchst, an den Farbwerken auch vorbei (finster die Farbwerke: brüten Albträume aus), und in weiten Bogen der Main. Schiffe. Die Strömung. [Ebd., 149]

– die für die Sicherung und Reaktivierung vergangener Eindrücke stehen können, ohne (wie so viele Erinnerungsbücher) in der Nennung von Markennamen sich zu erschöpfen und zu vermeinen, man habe damit eine Generation beschrieben.

Mit wenigen Worten skizziert er simultan Szenerien, Dialoge, Typen und ganze Lebensläufe:

Die Elbe aufs Meer zu. Tag und Nacht Schiffe vorbei. Ozeandampfer, Frachter, Öltanker, Schlepper, Gespensterschiffe, Segeljachten und Fischkutter. Ein Feuerwehrschiff. Der Zoll. Die Wasserschutzpolizei. Jedes Schiff grüßt. Blau und weiß die Villa. Mit blanken Fenstern. Vierzig Zimmer. Vierundvierzig. Beim nächstenmal Nachzählen achtundvierzig. Die Fenster jeden Tag frischgeputzt. Nur unser Hausmeister kennt diese feine ältere Dame, die sich in allem und jedem ganz und gar auf sein Wort verläßt. Ehrenwort! Sie lieber nicht stören! Aber im Zweifelsfall ist sie für ihn jederzeit telefonisch erreichbar. Aber ja! Jederzeit! So eine feine ältere Dame. Geld spielt bei der keine Rolle (solang die Miete pünktlich bezahlt wird). Ihr Verlobter im ersten Weltkrieg vor Skagerrak. Kapitänleutnant. Heldentod. Sie hat als Frau, als Dame schriftlich ihren Doktor in Filesofie. Und mit Familienwappen. Muß man sich vorstellen! Eine Trauerweide, einen Kiesweg, ein hohes Tor. Die Möwen auch. Die Schiffe. Die Elbe. [Ebd., 127]

Auch wenn die Melancholie als schwerer Mut über den Erinnerungen und Gegenwärtigkeiten liegt, gibt es auch immer wieder Momente, in denen der Protagonist sich selbst in seiner Tragikomik sieht, und man mag ihn sich gickernd an seiner elektrischen Schreibmaschine vorstellen – etwa, wenn er ab Seite 71 über sechs Seiten schildert, wie er mehrfach und vielfältig an der Zubereitung eines Espressos scheitert, weil er einfach zu sehr in Gedanken ist, oder wie die Auswahl eines Stücks Seife für nicht mal eine Mark ihn für zwei Stunden (und wiederum über einige Seiten) fesselt und so fort.

Was mich aus Gründen allerdings am stärksten berührt, ist die unendliche Zärtlichkeit, mit der der Protagonist wieder und wieder in kleinen Episoden, blitzlichtartigen Einsprengseln oder auch längeren Passagen den Umgang mit seiner kleinen Tochter beschreibt, die für ihn bei aller familienunfreundlichen Unfähigkeit, ein anderes Leben als das des Künstlers zu führen, das Liebste zu sein scheint.

Hierfür keine Beispiele. Jetzt müsst Ihr schon selbst lesen.

Gelesen (und lesend): Proust. III.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 3: Der Weg nach Guermantes. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2014.

Seit einiger Zeit liegt hier als Gedächtnisstütze der dritte Band rum, obwohl ich ihn schon vor einer Weile las (aktuelle Lektüre – neben anderem – ist der vierte), aber bislang nicht zum Verbloggen kam. Ihn zu lesen fiel mir nicht immer leicht, und so einige Male gab es längere Lektürepausen (für andere Bücher), was einerseits an Vielzutun, vor allem aber am Buch selbst lag – hierzu gleich mehr.

»Der Weg nach Guermantes« enthält zwei nicht gesondert betitelte Teile, von denen der zweite wiederum in zwei ebenfalls nicht benannte Kapitel aufgeteilt ist. 800 Seiten lang, zuzüglich 158 Seiten Anmerkungen.

Des Erzählers Familie zieht um – und zwar in einen Flügel des Palais Guermantes. Die Veränderungen haben Folgen sowohl für die Familie als auch für die Dienstboten, gerade Françoise ist zunächst unzufrieden und sehnt sich nach Combray zurück. In der Schilderung ihrer Verfassung zeigt sich Proust als der Humorist, der er auch ist: in der Überzeichnung ihrer Sentimentalitäten wie auch ihrer Überwindung.

Marcel ist mal wieder verliebt, und zwar diesmal in die Herzogin von Guermantes; ausführlich werden seine Versuche, ihr zufällig zu begegnen, geschildert, aber auch seine Angst, diese Annäherungen könnten falsch verstanden werden.

Anlässlich eines Besuches bei Saint-Loup blickt der Erzähler in die Gepflogenheiten des Militärdienstes, zeichnet die Fragwürdigkeiten des Mätressenwesens. Als early adopter zeigt sich Marcel bezüglich der neuen Technik des Telefonierens1: 1: Einen anderen, nämlich Walter Benjamin, hatte ich hier einmal mit seinem Eindruck von der unheimlichen Technik zitiert.

[…] Wir müssen lediglich, damit dieses Wunder sich vollzieht, unsere Lippen dem magischen Plättchen nähern und – gelegentlich ein wenig zu lange, zugegebenermaßen – die Wachsamen Jungfrauen rufen, deren Stimmen wir jeden Tag hören, ohne dass wir sie je zu Gesicht bekommen, und die unsere Schutzengel in dem schwindelerregenden Dunkel sind, dessen Pforten sie eifersüchtig bewachen; die Allmächtigen, dank deren die Abwesenden an unserer Seite auftauchen, ohne dass man sie sehen darf; die Danaiden des Unsichtbaren, die unermüdlich die Urnen der Klänge leeren, sie füllen, sich weiterreichen; die ironischen Furien, die uns in dem Augenblick, in dem wir einer Freundin eine Vertraulichkeit zuflüstern in der Hoffnung, niemand könne uns hören, herzlos zurufen: »Ich höre Sie«; die stets zürnenden Dienerinnen des Mysteriums, die argwöhnischen Priesterinnen des Unsichtbaren, die Fräuleins vom Amt!

Und sobald unser Ruf in der Nacht voller Erscheinungen erklungen ist, der allein unsere Ohren sich öffnen, ein schwaches Geräusch – ein unwirkliches Geräusch – das der aufgehobenen Entfernung – und die Stimme des geliebten Menschen spricht zu uns.

Er ist es, seine Stimme ist es, die zu uns spricht, die zugegen ist.

Abgesehen davon, dass ich die Stelle schon um die Einleitung gekürzt habe, ist sie typisch für den Stil Prousts zwischen genauester Ausleuchtung des Phänomens an sich und der Reflexion und Einordnung des Ganzen, oszillierend zwischen leidendem Miterleben und ironischer Distanzierung, hier etwa durch die übertriebene Mythisierung des Geschehens und die viele Zeilen später erst nachgeschobene Auskunft

Doch leider fand an jenem Tage in Doncières das Wunder nicht statt.

Dieses Spiel lässt die Prosa Prousts leuchten (und die antiquarisch erworbene und parallel gelesene Proust-Monografie Ernst Robert Curtius’ nennt – wenn auch am Beispiel der alten Übersetzung – viele solcher Beispiele) – doch insgesamt war mir der Anteil an Salongespräch und hiermit verbundenen Beobachtungen dieses Mal einfach zu hoch, wenn auch von vereinzelten grauenhaften Geschehnissen berichtet wird, etwa dem Tod der geliebten Großmutter nach einem Schlaganfall. Vielleicht passt die Lektüre auch einfach nicht in den Sommer.

Mit dem Besuch bei de Charlus, bei dem dieser dem irritierten Marcel eine Szene macht, schließt der Band schon fast – diese ist auch schon ein Hinweis auf den nächsten Band: dieser, der vierte – Sodom und Gomorrha –, ist schon begonnen, und es sei hier verraten: er beginnt gleich mit einem Paukenschlag!

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Gelesen (und lesend). Proust. II.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 2: Im Schatten junger Mädchenblüte. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2014.

Für den zweiten Band brauchte ich ein wenig länger als für den ersten (bei einem längeren Leseprojekt sind ja immer auch andere Lektüren zu bedenken; zudem ist mir bewusst geworden, dass die Beschleunigung des Lesers nicht auch die des Übersetzers nach sich zieht: für 2015 ist zwar noch Band 4 angekündigt, folgende Bände oder gar der Abschluss der Projektes sind allerdings noch nicht absehbar), aber nun ist er mit seinen über 700 Seiten (plus Anmerkungen) bewältigt.

Im Schatten junger Mädchenblüte enthält zwei Teile: »In der Welt von Madame Swann« und »Ländliche Namen: Das Land«.

Im ersten Teil wird die Emotionalität von Erwartung und Erfüllung ausgebreitet, letztere allzuoft die Enttäuschung beinhaltend: die schwärmerische Begeisterung für die Sängerin Berma, für den Autor Bergotte, letztlich auch für Gilberte, die erste Liebe Marcels, die er sich, kaum genossen, mühsam wieder abgewöhnt, weil sie ihn nicht in dem Maße zu lieben scheint wie er sie. Dass in biographischer Lesart die Frauenfiguren der Liebschaften Marcels – man beachte den androgyn ambivalenten Klang der Namen – wohl eher als Männer vorgestellt werden müssen, ist dabei ganz unerheblich. Im Zentrum stehen wie stets die Gefühle.

Der zweite Teil zeigt Marcel im Seebad Balbec inmitten eines Kreises von mehr oder weniger guten Bekannten und Freunden – Saint-Loup, Bloch – in gelangweilter Zerstreuung. Nach Gesang und Literatur ist nun die Malerei in Person Elstirs Thema für Marcel; hier knüpft er nun auch eine Verbindung zu Albertine, die er zuvor schon in einer Gruppe alberner Backfische wahrgenommen hatte. Fast kommt es zum Kuss! – Eine weitere Freundin (sind sie nicht alle irgendwie ähnlich?): Andrée.

Das Leben der Décadence erfasst Proust dabei in allen Facetten; die andere Sicht auf Welt wird zwar selten thematisiert, bleibt aber nicht unbemerkt, zum Beispiel wenn das Hotel beschrieben wird,

wo die elektrischen Quellen Fluten von Licht durch den großen Esssaal branden ließen, der wie zu einem riesigen, wundersamen Aquarium wurde, vor dessen gläserner Wand sich die arbeitende Bevölkerung von Balbec, die Fischer und auch die Kleinbürgerfamilien, unsichtbar im Dunkel an die Scheiben drückte, um das langsam von den goldenen Strömen gewiegte Luxusleben dieser Leute zu betrachten, das für die Armen ebenso fremdartig war wie exotische Fische oder Mollusken (eine bedeutende soziale Frage, ob die gläserne Wand auf Dauer das Gelage der wundersamen Bestien schützen wird und ob nicht die Schattengestalten, die gierig in der Nacht zuschauen, kommen werden, um sie in ihrem Aquarium einzufangen und aufzuessen). [Ebd., 348]

Habe derweil schon den Weg nach Guermantes eingeschlagen.

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Gelesen (und lesend). Proust. I.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 1: Auf dem Weg zu Swann. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2013.

Die (momentan noch nicht abgeschlossene) Neuübersetzung der Suche war für mich der Anlass, mit der Lektüre dieses Ausnahmewerks zu beginnen. Die ausgesprochen schöne Edition in der Reclam Bibliothek – leinengebunden, fadengeheftet, Schutzumschlag von Forssmann und Feyll – tat ein Weiteres dazu; dass der Verlag ab dem zweiten Band auch erkannt hat, dass eine Ausgabe mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat nicht nur ein, sondern zwei Lesebändchen braucht, ist nicht selbstverständlich.

Der Titel ist jedem literarisch Interessierten bekannt, und für eine Vorstellung vom Inhalt (da stippt jemand eine Madeleine in einen Lindenblütenaufguss und erinnert sich aufgrund des gustatorischen Reizes an frühere Lebensphasen) reicht es meist auch noch. Bis diese Szene jedoch geschildert wird, sind wir auf Seite 70 angelangt – und ein Großteil potentieller Leser_innen vermutlich längst abgesprungen, wie es auch mir bei früheren Lektüreversuchen erging.

Dieses Mal lief’s besser, was natürlich auch damit zu tun hatte, dass in den Weihnachtsferien ein wenig mehr Muße war, um sich dem Konzept des Werks zu ergeben, was hinzunehmen (und über längere Sicht gar zu goutieren) beinhaltet, dass der Erzähler über Seiten hinweg in langen, wieder und wieder durch Einschübe und Präzisierungen unterbrochenen und daher nur durch konzentriertes Lesen erfassbaren Sentenzen eine einzige Gefühlsregung analysiert und ausdeutet, ohne dass nun eine Geschichte herkömmlicher Art wesentlich vorangetrieben würde. Fern ist dieser Roman also dem, was man als »Spannung« angepriesen zu bekommen gewohnt ist, weil es sich ganz dem mehr oder minder behaglichen Schwelgen in Erinnerung hingibt, dabei jede noch so kleine emotionale Regung, jedes winzige Geschehnis als wichtig und mitteilenswert begreift. (Spätestens an dieser Stelle wird erkennbar, warum die Kritiker Knausgårds unglücklich betitelte Min kamp-Reihe mit Prousts Roman vergleichen.)

Die Suche besteht insgesamt aus sieben Bänden (insgesamt über 5000 Seiten), von denen ich nun den ersten im Umfang von gut 580 Seiten (ohne Anmerkungen!) gelesen habe. Er ist wiederum aufgeteilt in drei Teile – »Combray«, »Eine Liebe von Swann«, »Ländliche Namen: Der Name« –, die ihrerseits von Umfang und Dichte her mindestens längere Erzählungen ausmachen, wenn nicht gar als Roman gelten könnten. Im ersten Teil wird der ländliche Ort Combray (samt damit verbundenen Erinnerungen) vorgestellt, an dem der Erzähler in Kindertagen mit seinen Eltern, an sich in Paris wohnend, die freie Zeit verbrachte, im zweiten Teil die verhängnisvolle Zuneigung Swanns zu einer Dame fragwürdigen Rufs geschildert, im dritten die Liebe des Erzählers zu Gilberte, der Tochter Swanns, beschrieben. Alle wichtigen Informationen zu den genannten Geschehenszentren könnten problemlos auf wenigen Seiten mitgeteilt werden; es ist also rasch offensichtlich, dass das Erzählen Prousts einem anderen Antrieb folgt.

In »Combray« beispielsweise werden Spaziergänge mit der Familie, Lektüreeindrücke, persönliche Vorlieben (wie etwa für den Weißdorn), Beziehungen der Figuren untereinander – insbesondere die des Jungen zu seiner Mutter –, aber auch gesellschaftliche Ereignisse, zum Beispiel Besuche und Gegenbesuche, Gründe für und gegen dieselben sowie immer wieder ausführlichst die mal schwärmerischen, mal sentimentalen, mal furchtsamen, mal zuversichtlichen Reflexionen des Erzählers geschildert. Eine leise Ironie ist seinem Ton öfter eigen, wenn es um die mehr oder minder anerkannten Berühmtheiten des provinziellen Lebens mit ihren Eigenheiten geht, die Eifersüchteleien und Sticheleien, das Sich-aus-dem-Weg-Gehen wie das bewusste Suchen vermeintlich wichtiger Bekanntschaften und so fort. Die Sehnsucht des (zum Beispiel zu viel, unglücklich oder unerwidert) Liebenden wird in verschiedenen Variationen zart, mit der Überempfindsamkeit des Liebesleidenden vielfältig und in allen Facetten erfasst.

Der zweite Band liegt schon bereit.

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Gelesen. Barker.

Pat Barker: Tobys Zimmer. Übertragen von Miriam Mandelkow. Zürich: Dörlemann, 2014.

In zwei Abschnitte ist das Buch geteilt: einen, 1912 spielend, in dem die eines Tages über das Erlaubte hinausgehende Liebe der jungen Malerin Elinor Brooke zu ihrem Bruder Toby geschildert wird, und einen zweiten, in dem Elinor 1917 erfährt, dass ihr Bruder als »vermisst, vermutlich gefallen« wohl nicht aus dem Krieg zurückkehren wird. Um seinen Tod rankt sich ein Geheimnis, das nach und nach aufgedeckt wird.

Thematisiert werden neben psychischen Verwerfungen, die das Ereignis zwischen den Geschwistern mit sich bringt, die Ausbildung Elinors, ihre Selbstwerdung (zu der natürlich das jungenhafte Kürzen der Haare, aber eben auch ein allgemein damals für Frauen ungewöhnlich selbstbewusstes Auftreten gehören), die freundschaftlichen und amourösen Beziehungen, in denen sie sich bewegt, die Ausbildung Elinors an der Kunstschule Slade, vor allem aber auch Elinors Umgang mit Tobys Tod.

Mir scheinen diese Aspekte teilweise recht formlos nebeneinander zu stehen, obwohl sie für sich genommen stilistisch fein ausgeführt sind; offenbar aber ist dieses Buch als einzelnes aber gar nicht abschließend zu beurteilen, denn es bewegt sich in einem in den Werken Barkers öfter besuchten Figurenkosmos (Elinor und ihr Freund Paul beispielsweise spielen auch in Life Class wichtige Rollen), und auch der Erste Weltkrieg als lebensbedeutsamer Einschnitt wurde schon in früheren Werken Barkers in Zentrum gestellt. Es gälte also im Umkreis weiter zu lesen.

Schon im Nachwort der Autorin findet sich ein Hinweis auf den im Buch fiktionalisierten, aber tatsächlich existenten Kunstlehrer an der »Slade School of Fine Art«, Henry Tonks, dem sie später in einem Hospital wieder begegnet, in dem vor allem Gesichtsverletzungen von Kriegsopfern behandelt werden. Hier dokumentiert er zeichnerisch, was junge Männer sich im Krieg gegenseitig antaten. Zeichnungen des realen Tonks finden sich [nur klicken, wenn du weißt, was du tust] hier.

(Abbildungen wie diese, allerdings in fotografischer Form in Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege, ließen mich den Kriegsdienst verweigern. Es sollte uns mit Sorge erfüllen, dass das Buch, nachdem es jahrzehntelang immer wieder neu aufgelegt wurde, momentan, da gelangweilte Zeitgenossen angesichts der Krise in der Ukraine einen dritten Weltkrieg herbeifaseln wollen, nicht lieferbar ist.)

Doch auch literarische Spuren werden in verschiedenste Richtungen gelegt; so ist schon der Titel eine Reminiszenz an Virginia Woolfs Jacobs Raum (in dem Erinnerungen an Woolfs Bruder Thoby (!) verarbeitet werden), die Bloomsbury Group findet sich auch in Anspielungen wieder. Das Antigone-Motiv spielt ebenso eine Rolle wie das des Inzests, zu Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gibt es eine Verbindung, und letztlich hat die Handlung eben auch etwas Kriminalistisches.

Es bleibt zu hoffen, dass Dörlemann mehr von Barker übersetzen lässt.

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