Matthias Wegehaupt:
Die Insel. Berlin: Ullstein, 2005.
Ein Tausend-Seiten-Roman verdient schon ein wenig mehr Worte als nur den lakonischen Eintrag »Gelesen«, umso mehr, wenn er letztlich gefällt.
Matthias Wegehaupt ist eigentlich
Maler, und so erstaunt es auch nicht, dass die Hauptfigur des Romans, norddeutsch geprägt »Unsmoler« genannt, ebenfalls als Künstler auf einer kleinen Ostseeinsel sein Auskommen sucht. Über die 40 Jahre der DDR (und ein wenig darüber hinaus) bildet Wegehaupt das Leben auf der Insel in Miniaturen, Landschaftsbildern, Porträtserien ab und erfasst damit sowohl die Inselbewohner – Lütt Otto, dessen Pferd Unsmoler »totschmeißt«, Lüders, den Traktoristen, Elfriede als Postbotin und andere –, aber auch die neuen Herren der Insel: den »Inselchef« genannten höchsten Parteivertreter, den Mitarbeiter (der Staatssicherheit), die weiteren Angestellten des Objekts.
Themen sind die Umgestaltung der Insel über die Jahrzehnte als Zeichen der gewaltsamen Annektierung, die Auswirkungen auf die eng umgrenzte Inselgesellschaft, die dabei stellvertretend für die DDR insgesamt steht, das Verhalten der Bürger im Angesicht des zunehmend deutlicher werdenden Totalitarismus, die Spannung zwischen Bürger und Künstler sowie Künstler und Staatsgewalt (unter den besonderen Bedingungen der DDR, die sich ja als kulturfreundlich verstand), natürlich auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Frage nach der Möglichkeit eines richtigen, mithin glücklichen Familienlebens im falschen und so fort.
Weitgehend realistisch erzählt Wegehaupt das Ganze, zumindest ohne gewollt wirkende Manierismen, lässt sich viel Zeit für die Schilderung der Geschichte; »Geschichte« meint hierbei in erster Linie tatsächlich dargestellte Zeitgeschichte, denn die Figuren bleiben weitgehend Charaktermasken (der Fischer, der Traktorist, der, Abschnittsbevollmächtigte, der Mitarbeiter …), allein bei Unsmoler selbst sowie dem benachbarten Künstlerpaar sind Anflüge von Entwicklung erkennbar. Eine Abkehr vom Realismus zeigt sich vor allem in den Nachahmungen von Unsmolers Naturerfahrungen, die für ihn Grundlage neuer Werke werden, aber auch gerade in der ersten Hälfte des Buches in humoristischen Zuspitzungen von Begebenheiten und ironisierenden Beschreibungen von Figuren und Sachverhalten.
Der Fokus scheint für Wegehaupt auf der Darstellung des Künstlercharakters selbst zu liegen, der sich als auf Ansprache hin umgänglich, aber von sich aus uninteressiert am gesellschaftlichen Verkehr zeigt, zeitweise – bedingt durch Schaffens- oder Blockadephasen – fast soziophob, auf seine Arbeit konzentriert, der sich sein Leben und damit auch seine Liebste (die diese Unbedingtheit letztlich flüchtet) unterordnen muss.
Obwohl der Inselchef der oberste Machthaber auf der Insel ist und Maßnahmen aller Art weitgehend auf seine Vorstellungen zurückgehen, wird er stets auch als kleines Licht im Staatsapparat gezeigt, das von Anfang an kaum eine Handlung allein aus eigenem Wollen vollzieht: fast immer richten sich seine Gedanken auf die höheren Hierarchiestufen, und je weiter die Erzählung voranschreitet, desto deutlicher wird des Inselchefs immerwährende existenzielle Angst, nun den entscheidenden Fehler begangen oder die wichtige Entscheidung unterlassen zu haben, was ihm von oben vorgeworfen werden könnte.
Die die Interessen des Einzelnen überrollende Gewalt im Namen einer übergeordneten Idee übrigens, die Wegehaupt über tausend Seiten sehr eindrücklich und gewiss nicht verharmlosend zeigt, wird im letzten Kapitel noch einmal relativiert: was dem Inselchef die schnurgerade volkseigene Betonpiste (und andere architektonische Fragwürdigkeiten) als Zeichen der Entwicklung und des Erfolges war, sind den ausschließlich am privaten Profit interessierten Investoren nach 1989 dann ebenso inselfremde Golfplätze, Bootshäuser und Jachten. Als Verkäufer für die Investoren indes tritt einer auf, den der Leser schon aus dem alten System gut kennt …
Und der Maler ist wieder fremd. –
Dass mein Exemplar des Buches den Stempel »Mängelexemplar« trägt, ist nicht dem Roman selbst, wohl aber dem Korrektorat anzulasten: nicht wenige Rechtschreib- und Kommafehler, auch vom Lektorat übersehene widersinnige versehentliche Vertauschungen von Figuren etc. zeigen, dass bei Ullstein zu wenig auf Qualität geachtet wird.
Der Roman selbst darf – auch als Gegenstück zu Tellkamps
Der Turm – gern wieder entdeckt werden. (Danke für den Tip, Almut!)