Jurek Becker:
Schlaflose Tage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978.
Jurek Beckers
Jakob der Lügner steht schon seit Jahrhunderten auf meiner Liste der zu lesenden Bücher, doch irgend etwas hielt mich immer wieder von der Lektüre ab; kürzlich bekam ich
Schlaflose Tage empfohlen und habe es jetzt gelesen.
Simrock ist Lehrer (es lohnte, analog zum Schülerroman auch einmal eine Liste der Lehrerromane zusammenzustellen) in der DDR der 70er Jahre. Als er eines Tages Herzbeschwerden verspürt, stellt er sein bisheriges Leben vollkommen in Frage und entdeckt für sich ein der Wahrhaftigkeit verpflichtetes. Damit einher geht eine Revision seines Lehrerbildes und die Formulierung von Leitsätzen:
1. Mein guter Lehrer muß ein Verbündeter der Kinder sein. Nicht in der Absicht, einen pädagogischen Trick anzubringen, nicht wie ein Taschenspieler, der mit Hilfe seines Verbündet-Tuns andere Ziele verfolgt, sondern ohne Vorbehalt. Nur auf Grund der Überzeugung, daß Kinder Verbündete brauchen.
[…]
3. Im Extremfall bereit sein, Konsequenzen zu ziehen […]. Bereit sein, nicht länger Lehrer zu sein, sich mit dieser Bereitschaft Bewegungsfreiheit verschaffen. […]
4. Er muß sich den Kindern verantwortlich fühlen, mehr als der Schulbehörde. Über den vielgebrauchten Satz, die Schule sei dazu da, die Kinder aufs Leben vorzubereiten, darf er nicht vergessen, daß die Gegenwart ja schon das Leben der Kinder ist. Daß sie schließlich nicht Tote sind, die erst zum Leben erweckt werden müssen.
[…]
8. Es wird geschehen, daß seine Ansichten von denen abweichen, die er laut Lehrplan den Kindern vorzutragen hat. […] Wie sich verhalten? Nur die andere Ansicht sagen? Oder nur die eigene? Oder beide? Wahrscheinlich gibt s keinen anderen Weg, als den Kindern zu erklären, wie Überzeugungen zustandekommen: nicht nur aus Urteilen, sondern auch aus Vorurteilen. […] Er darf die Kinder nicht lähmen mit Endgültigem, sondern er muß sie vergleichen lehren und somit zweifeln.
9. […] Er hat gewonnen, wenn die Kinder ihn akzeptieren, obwohl sie ihn ungestraft ablehnen können.
Allein diese Grundsätze bieten genügend Anlass zum Nachdenken.
Simrock wird dem Leser auf seinem Weg zu einem ehrlichen Selbst nie zur Identifikationsfigur, er ist zuweilen eher von sich selbst überrascht, welch weitreichende Folgen aus seinen neu gefundenen schlichten Prinzipien im Hinblick auf Schule und Leben erwachsen; gleich seine erste Handlung – die kaum begründete und letztlich gefühllos vollzogene Trennung von seiner Familie – verdeutlicht die sozialen Folgen seines Denkens. Simrock ist kein Sympathieträger, sondern eine sich selbst und uns in Frage stellende Figur, der wir beim Irren zusehen dürfen, die uns in ihrer finalen Radikalität allerdings überflügelt.
(An einer Stelle übrigens schildert eine Freundin Simrocks ihre Erfahrungen während ihres Physikstudiums:
Sie behauptete, vor Jahren schon gemerkt zu haben, daß Aufrichtigkeit hierzulande nur gefragt sei, wenn der Aufrichtige und die Vielzahl seiner Vorgesetzten übereinstimmten. […] In der Schule habe sie so überzeugend ihr Pensum heruntergelogen, daß es für die Universität reichte. Leider sei auch beim Studium der Physik, das sie fälschlicherweise für exakt gehalten habe, die Notwendigkeit zu Bekenntnissen übermächtig geworden. Ihre Tarnung sei drei Semester lang tadellos gewesen, dann habe eine Unvorsichtigkeit ihr wahres Wesen für Augenblicke durchscheinen lassen. […] Eine Woche später habe man sie von der Universität gewiesen […].
Heute ist in unserem Staat eine Person an herausragender Stelle tätig, die in ihrem Physikstudium in der DDR der 70er Jahre offensichtlich nie ein wahres Wesen hat verbergen müssen.)
Spröde und langweilig kommt es zunächst daher, das schmale Büchlein von gerade einmal 157 Seiten. Gelesen werden sollte es dennoch.
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