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Gelesen. Joyce.

James Joyce: Ulysses. Übertragen von Hans Wollschläger. Frankfurt: Suhrkamp, 2004.
James Joyce: Ulysses. New York: Vintage, 1986.

Das war das Leseprojekt für die Sommerferien: im Anschluss an Homers Odyssee Relektüre Joyce’ Version derselben (zum ersten Mal gelesen habe ich sie in Nachtschichten des Zivildienstes).

Paralleles, abwechselndes und Durcheinander-Lesen der kommentierten deutschen Variante und der englischen Gabler Edition – die rein englische Lektüre habe ich mir – anders als Anke – nicht zugetraut, weil ich, wenn ich eine Zeit lang nur die englische Variante gelesen habe, immer wieder das Gefühl hatte, mir entgeht Wesentliches (beim Kontrolllesen in der deutschen Version wiederum bemerkt, dass das streckenweise auch nicht viel besser ist).

Beispielseite aus der kommentierten Suhrkamp-AusgabeDie Anzahl und der Umfang der Anmerkungen in der deutschen Ausgabe (im Bild rechts: allein der Textblock oben rechts auf der linken Seite ist Text, der Rest Anmerkungen) zeigt, dass einem eine ganze Menge entgehen kann, wenn man nicht zufällig selbst mit Joyce durch die Kneipen Dublins gezogen ist und nebenbei dieselbe hoch-/pop-/subkulturelle Bildung wie er erworben hat. Dass die Fülle Wissens, die eifrige Literaturwissenschaftler*innen in den Marginalien zusammengetragen haben, in jedem Fall so sehr wichtig ist, kann sicher bestritten werden; in vielen Fällen aber bekommt man so zumindest eine Ahnung, von was die durch keinerlei Erzählerinstanz vermittelten Figuren überhaupt reden.

Wenn man beide Ausgaben nebeneinanderliegen hat, fällt auch auf, welch enorme Leistung die Übertragung überhaupt war – beispielsweise, wenn das 14. Kapitel in Form historischer Sprachentwicklungsstufen erzählt wird und Wollschläger zu den entsprechenden englischen Passagen deutsche Entsprechungen finden musste.

In der kommentierten Ausgabe gibt’s auch jeweils eine Einführung zu jedem Kapitel, die einerseits die Referenzstellen aus der Odyssee vorstellt, andererseits kurz eine inhaltliche Einordnung des Geschehens im Ulysses vornimmt. Im Anhang der Ausgabe findet sich unter anderem ein Kartenteil, in dem die Wege der Figuren durch Dublin gezeigt werden.

(So, und nun nehme ich mir noch einmal Senns Nichts gegen Joyce vor, das ich damals – ebenso wie den Ulysses – in der Buchhandlung zum Wetzstein kaufte.)

Gelesen. Von Ranke-Graves.

Titelbild: Antike in 50er-Jahre-ÄsthetikRobert von Ranke-Graves: Nausikaa und ihre Freier. Übertragen von F. G. Pincus. Berlin: Blanvalet, 1956.

Nausikaa wird vorgestellt als selbstbewusste und kluge Königstochter, die anlässlich der Abwesenheit ihres Vaters und der Ansammlung vieler diese Absenz nutzenden halbstarken Freier sowie der zufälligen Ankunft eines kretischen Schiffbrüchigen ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Später verarbeitet sie ihre Erlebnisse in einem viele tausend Verse langen Epos, als dessen Autor Homer bekannt werden sollte …

Gelesen. Homer.

Homer: The Odyssey. Translated by Emily Wilson. London: Norton, 2018.

Den ersten Hinweis auf die neue Übersetzung der Odyssee durch Emily Wilson bekam ich von unserem E-Kind. Zunächst hielt ich die Übersetzung für nur bedingt interessant, weil es ja auch Übertragungen der Odyssee ins Deutsche gibt und eine von einem Nicht-Muttersprachler gelesene Übersetzung ins Englische immer eine gelinde Lektüreerschwernis mit sich bringt, doch dann häuften sich die Anzeichen (die ich ohne den ersten Hinweis vermutlich übersehen hätte), dass es anders sein könnte, beispielsweise Artikel in der NYT, im Guardian und anderswo.

Ich las dann eine Weile auf Wilsons Twitteraccount mit, und was sie dort an Details zur Übersetzung erzählte, zeigte, dass ich hier eine Menge lernen könnte. Beispielsweise belegt Wilson im Thread zur Sirenenepisode den Einfluss des männlichen Blicks der Übersetzer auch auf inhaltliche Aspekte der Übersetzung, sodass die Sirenen, die durch ihr Wissen verführen wollen, stattdessen als körperlich verführerisch sexualisiert werden. Dass die Übersetzung (»Lippen« statt »Münder« für στομάτων) nicht nur vom Wort her falsch ist, sondern auch den Sinn im Kontext verfälscht (Münder sind für Odysseus bei Homer immer bedrohlich, Lippen nicht; dieser Gegensatz wird in vielen bisherigen Übersetzungen nivelliert), zeigt, dass es tatsächlich um Details geht, wenn Übersetzer*innen ans Werk gehen, und dass (bewusste oder unbewusste) Vorstellungen und Intentionen dabei eine gewichtige Rolle spielen.

In meiner Zivildienstzeit las ich begleitend zum Ulysses die Schadewaldtsche Prosaübertragung; Voß’ Verse waren mir immer zu sperrig, um mehr als nur einzelne Stellen goutieren zu können. Wilsons Versübertragung hingegen ist (auch allein und heimlich laut gelesen) rhythmisch ein Genuss, auch wenn sie – wiederum wohlbegründet – die originalen Hexameter nicht etwa abzubilden versucht, sondern stattdessen jambische Pentameter nutzt, um mittels einer dem aktuellen Alltagsenglisch nahen Sprache einerseits die Inhalte genau zu übersetzen, andererseits aber gerade durch den Verfremdungseffekt des nicht künstlich archaisierenden Ausdrucks zu verdeutlichen, dass Homers Original wie die Zeit, von der er erzählt, fern bleiben müssen.

Neben ausführlichen Anmerkungen zur Übersetzungsarbeit finden sich dem Text vorangestellt auch eine Einführung in den historischen und kulturellen Hintergrund, zum Autor (inklusive der homerischen Frage) und Text, zu einzelnen Figuren und -gruppen etc.

Ihre Anmerkungen beendet Wilson mit den – sowohl auf die Figur Odysseus als auch auf den Text anwendbaren – Worten:

There is a stranger outside your house. He is old, ragged, and dirty.

He is tired. He has been wandering, homeless, for a long time, perhaps many years. Invite him inside. You do not know his name. He may be a thief. He may be a murderer. He may be a god. He may remind you of your husband, your father, or yourself. Do not ask questions. Wait. Let him sit on a comfortable chair and warm himself beside your fire. Bring him some food, the best you have, and a cup of wine. Let him eat and drink until he is satisfied. Be patient. When he is finished, he will tell his story. Listen carefully. lt may not be as you expect. [Ebd., 91]

Ein empfehlenswertes Bildungserlebnis!

(Nachtrag 19. Oktober 2018: ausführliche Rezension von Julia Rosche bei TraLaLit.)