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Gelesen. Mühlenweg.

Fritz Mühlenweg: In geheimer Mission durch die Wüste Gobi. Lengwil: Libelle, 2007.

»Es gibt keine Hilfe«, sagte Großer-Tiger düster.

»Es gibt keine Hilfe«, bestätigte Christian.

»Wie!«, rief Großer-Tiger, »du sagst auch, es gibt keine Hilfe? Das darfst du nicht tun. Du musst etwas anderes sagen.«

»Es fällt mir nichts anderes ein.«

»Kwi-Schan!«, rief Großer-Tiger flehend, »es muss dir etwas infallen! Es geht nicht, dass wir beide mutlos sind.«

»Dann«, sagte Christian, »müssen wir einen Vertrag machen: nur einer von uns darf verzweifelt sein und ›Es gibt keine Hilfe‹ sagen.«

»Das bin ich«, sagte Großer-Tiger geschwind.

»So wäre es kein Vertrag. Ein Vertrag ist anders. Sobald einer von uns ›Es gibt keine Hilfe‹ sagt, dann muss der andere von etwas Zuversichtlichem reden, und dann ist es ein Vertrag, der gilt.«

»Ich habe es zuerst gesagt.«

»Da bestand der Vertrag noch nicht!«

»Besteht er denn jetzt?«

»Ja«, sagte Christian, »wenn es dir recht ist, besteht er.«

»Es ist mir recht«, erklärte Großer-Tiger, »und ich sage als Erster: ›Es gibt keine Hilfe‹.« Großer-Tiger schaute, was Christian für ein Gesicht mache, und dann mussten beide lachen. [Ebd., 232 f.]

Ein Kinder-/Jugendbuch, erstmals erschienen 1950 in zwei Bänden (Großer-Tiger und Kompaß-Berg sowie Null Uhr fünf in Urumtschi) und seitdem eher vergessen, was wohl auch am Umfang liegt: in der schönen einbändigen Ausgabe bei Libelle selbst ohne Nachwort 747 Seiten. Diese erzählen die Geschichte zweier zwölfjähriger Freunde, eben Großer-Tiger und Kompaß-Berg (eigentlich Christian), beide in Peking lebend, die zufällig in ein Abenteuer geraten, das sie quer durch die Wüste Gobi treibt, dabei vielen Gefahren aussetzt, aber auch Freunde gewinnen lässt. Würde das Buch heute auf den Markt kommen, würde es vermutlich deutlich gekürzt, denn die eine oder andere Länge findet sich schon; als Überbleibsel einer Zeit, in der Wissen über das Leben mongolischer Nomad*innen nicht jederzeit per Smartphone in Wort und Bild abrufbar war, ist es trotzdem ein entdeckenswertes Werk.

Ich bin dafür, dass es in der Wüste heiß ist.«

»lch bin dafür und dagegen«, sagte Großer-Tiger.

»Kann man beides sein?«, fragte Christian erstaunt.

Großer-Tiger bedachte sich, und weil es eine schwere Frage war, sagte er: »Im armseligen Reich der Mitte denkt man, dass es vorteilhaft sei, manchmal beides zu sein.«

»Wollen wir ein Stückchen schlafen?«, fragte Christian.

»Ich bin dafür«, sagte Großer-Tiger.

»Ich auch; sind wir uns einig?«

»Wir sind uns immer einig.«

»Auch wenn es in der Wüste heiß sein wird?«

»Wir sind doch Freunde«, sagte Großer-Tiger.

Christian gähnte ein bisschen, und Großer-Tiger gähnte zur Gesellschaft mit; aber das kam weniger vom Müdesein als vom Hunger, denn die Mohnkuchen waren leider alle aufgegessen. Trotzdem schliefen sie schnell ein. [Ebd., 104]

Die offene und am Fremden interessierte Haltung des Autors, der die Gegend in den 1920er und frühen 1930er Jahren selbst bereist hat, findet ihren Ausdruck in den Handlungen der Freunde, die – wenn auch zuweilen frech und gegen die Anweisungen der Erwachsenen – stets auf der moralisch richtigen Seite stehen. Hier zeigt sich der pädagogische Impetus des Autors (wie er nicht ganz so fein auch in den Ubique-Terrarum-Bänden von Herbert Kranz deutlich wird), beispielsweise wenn die Jungs traurig erkennen, das das Lügen in bestimmten Fällen geboten scheint, um den Erfolg der Mission nicht zu gefährden (vgl. ebd. 254 f.) oder auch hier:

Als sie oben beisammensaßen und zum Trost einige Honigbrotwürfel aus dem Sack langten, sagte Christian: »Glück ist ein Dummkopf.«

»Ich habe es ihm gesagt«, erwiderte Großer-Tiger.

»Das war nicht klug«, sagte Christian, »nun haben wir beide gegen uns.«

»Ich bekenne, dass ich unbedacht war, Kwi-Schan.«

»Es ist nicht schlimm«, tröstete Christian geschwind. [Ebd., 310]

Für ein Kinderbuch ist die sprachliche Form bemerkenswert: ohne Ausnahme findet sich im Werk ein ganz eigener Ton, der von bewusst willkommene Fremdheit signalisierenden Übertragungen aus dem Chinesischen bzw. Mongolischen, die sich in formelhaften Wendungen (»Reden schafft Erleichterung«, »der befehlende Herr«, »Es gibt keine Hilfe«, »Wir harren der Belehrung«, »Keine Besorgnis deswegen«, »In der Eile sind Fehler«), niederschlagen, und mongolischen Wörtern, die mit den Protagonisten auch die Leser*innen kennen lernen, unterstützt wird, und der gerade im Gespräch der beiden Jungs immer auch einen komischen Effekt zeigt.

»So geht das nicht«, sagte er; »zwei Stück Menschen, die mit Mongolenfürsten befreundet sind, müssen sprechen: ›Amorchen sän sotje beino‹.«

»Amorchen sän sotje beino?«, sagten Christian und GroßerTiger.

»Gut«, lobte Glück, »für den Anfang mag es gelten. Wisst ihr, was es heißt?«

»Wir wissen es nicht, befehlender Herr.«

»Es heißt: ›Sitzt ihr leicht und gut?‹ Das ist ein mongolischer Gruß. Und jetzt setzt euch selbst, aber ja nicht mit den Füßen gegen das Feuer!«

»Ist das verboten?«, fragte Christian.

»In der Mongolei ist nichts verboten«, sagte Glück, »aber es gibt Dinge, die nicht erlaubt sind, weil es unhöflich wäre, sie zu tun. Versteht ihr mich?«

»Wir bedauern außerordentlich«, sagte Christian.

»Entschuldigt unsere Begriffsstutzigkeit«, sagte Großer-Tiger.

»Das Feuer«, erklärte Glück, »ist ein Gott. Wenn man ihm die Füße entgegenstreckt, ist er beleidigt, und mit ihm ist der Hausherr und die ganze Familie beleidigt. Obendrein zeigt es, dass man nichts von Umgangsformen versteht, und dann verliert man das Gesicht, und kein Mensch schaut einen mehr an. Ihr zwei habt heute Abend ein Großes Gesicht gekriegt. In allen Zelten wird man davon reden, dass euch der Wang ein dickes Freundschaftsgeschenk gemacht hat. Also müsst ihr euch besonders gut benehmen.«

»Wir wünschen uns ausgezeichnet zu betragen«, versicherte Großer-Tiger. »Wir werden von heute an sehr artig sein«, stimmte Christian bei. [Ebd., 194]

Bei aller Bereitwilligkeit zu lernen (die echt ist und sich an vielen Beispielen zeigt) sind die schließenden Versicherungen der beiden Jungs durchaus auch tongue in cheek zu verstehen. –

In diesem Zug gleich auch gelesen: Tausendjähriger Bambus – eine von Mühlenweg übertragene Sammlung chinesischer Gedichte.

Herbert Kranz und »Ubique Terrarum«.

Titelbild Kranz:

Zu Herbert Kranz gibt es auf diesen Seiten und in der Wikipedia etwas nachzulesen; beide Biografien scheinen mir jedoch eher exkulpierend im Hinblick auf die Rolle Kranzens im "Dritten Reich": so informiert die Wikipedia

»Ab 1933 gerät er mehrmals ob seiner liberalen Einstellungen auch in seinen Werken mit der herrschenden Nazidiktatur in Konflikt, wird sowohl von Zeitungen (1943 Frankfurter Zeitung), als auch von der Akademie (1933) entlassen.

Nach dem Krieg wohnt er als freier Schriftsteller [...].«

– Kein Wort mithin zum Beispiel über Das Buch vom deutschen Osten, in dem Kranz die Geschichte deutscher Besiedelung in Osteuropa durch die Jahrhunderte erzählt. Im Vorwort schreibt er:

»Nie wird er [der Verfasser, Herbert Kranz] einen Sonntagnachmittag im Juli [1939] vergessen. Er schrieb gerade über Friedrich den Großen [...] Sätze nieder [...] – da hallte von draußen der Marschtritt von Soldaten und das unheimlich klanglose Klappern von Pferdehufen auf den Asphalt. Er trat ans Fenster und sah unten ein Infanteriebataillon durch die Straße ziehen, dessen Ziel der Westwall war. Auf die folgenden großen Geschehnisse, den Zusammenbruch Polens, die Neuordnung des Ostens mit ihren beispiellosen Umsiedlungen, konnte das Buch, das im November 1939 erschien, nur eben hinweisen.«

Polen sei also einfach so zusammengebrochen – vor diesem Hintergrund würde es mich schon interessieren, was Herbert Kranz im in der Frankfurter Illustrierten 1940 erschienenen Artikel »So war es in den entscheidenden Stunden« zu sagen hatte - leider liegt mir diese »auf Grund der Akten und mündlicher Mitteilungen der beteiligten Herren des Auswärtigen Amtes« veröffentlichte »erste Geschichtsreportage« nicht vor.

Im Buch vom deutschen Osten jedenfalls verbreitet Kranz recht ungeniert die Mär vom starken Deutschland, das den anderen Gebieten, die wie von selbst sich Deutschland angegliedert hätten, nur helfend beigesprungen sei:

»Österreich wurde wieder die Ostmark des Deutschen Reichs, [...] Memel kehrte zum Reich zurück, Danzig folgte ihm, und als Polen, getreu seiner Tradition, die unsinnigsten Wunschgebilde als Wirklichkeit zu nehmen [...] den deutschen Vorschlag einer gedeihlichen Regelung der Beziehungen zum Deutschen Reich nicht einging, dazu aber fortfuhr, die Volksdeutschen seiner Gebiete unmenschlich zu behandeln, vernichteten die deutschen Truppen in einem achtzehntägigen Feldzuge, wie ihn die deutsche Geschichte noch nicht gesehen hatte, das polnische Heer [...]. Die zur Führung berufenen Mächte des Ostens, Deutschland und Rußland, konnten nun darangehen, diesen Osten neu zu gliedern [...].«

1943 übrigens wurde dieses Buch nochmals unverändert nachgedruckt; nach einem unerwünschten Schriftsteller sieht dies nicht aus.

Hinzu kommt der Eindruck der Kinder- und Jugenbuchsammlung der Universität Graz, »die Ostafrika-Erzählungen von Herbert Kranz [spiegelten] gewaltsame Eroberung, imperiale Unterdrückung und Rassenwahn« wider. Ob das so ist, kann ich mangels Belegexemplaren nicht verifizieren; auch ist ein deutlicher Unterschied zwischen »widerspiegeln« und »gutheißen« – hier wäre sicher Bedarf für genaue Analyse.

Zumindest die in den Lexikonartikeln angedeutete Aussage, Kranz sei ein deutlicher Gegener des Naziregimes gewesen, lässt sich sicher nicht halten; hier sollten die Autoren Wahrheitstreue walten lassen und nichts beschönigen.

In der Generation der in den 40er und 50er Jahren geborenen Männer ist der Name Kranz hingegen mit ganz anderem verknüpft: mit der Kinderbuchreihe »Ubique Terrarum«: in klassischer Abenteuerromanmanier handelt sie von den Erlebnissen einer Gruppe von sechs Männern, die im Auftrag einer Londoner philantrophischen Company Aufträge in aller Welt ausführt - Mission impossible auf katholisch.

In ihrer Zusammensetzung und ihrem pädagogischen Impetus steht sie für Völkerverständigung, moralische Integrität und gleichberechtigtes Miteinander. Sie verdeutlicht den Wert von Wissen und Erfahrung, Neugier und Toleranz, zeigt, wie Hierarchie in Frage gestellt und allenfalls freiwillig anerkannt wird.

In einem heute liebenswert antiquiert wirkenden Ton wurden die noch nicht fernsehgewöhnten Jungs der 50er und 60er Jahre über Sitten und Gebräuche in fernen Ländern aufgeklärt, lernten unbekannte Gegenden kennen und erfuhren, wie in einem Team (damals noch nicht so abgenutzt wie heute) zusammengearbeitet wird, indem jeder seine Fähigkeiten zum Besten des Ganzen einbringt.

Da ich als Zwölfjähriger zwei Bücher Kranzens, die mein Vater in seiner Kindheit gelesen hatte, in meine Bibliothek stellen durfte und mich Karl Mays Elaborate schon immer langweilten, waren eben diese sechs Heroen – allen voran GG und der Chef, der in seiner Sprechweise so angenehm norddeutsch erschien – auch die meinen.

Lange Zeit hindurch waren die im Buchhandel vergriffenen Bücher nur antiquarisch – und damit teuer; es werden bis zu 50 € für einen Band der zehnbändigen Reihe verlangt – zu erwerben, nun hat der Enkel Kranzens, Georg Kranz, dankenswerterweise eine (bearbeitete) Neuauflage initiiert; sie erscheint als Book on Demand, die ersten zwei Bände sind erschienen.

Von Georg Kranz werden auch Leseproben bereitgestellt; hier die aus dem dritten Band, Tod in der Skelettschlucht.

An Sekundärliteratur ist Dr. Uli Ottos Auf den Spuren von »Ubique Terrarum« zu nennen, ich hab's aber erst bestellt, noch nicht gelesen.