Gelesen. Homer.
Homer: The Odyssey. Translated by Emily Wilson. London: Norton, 2018.
Den ersten Hinweis auf die neue Übersetzung der Odyssee durch Emily Wilson bekam ich von unserem E-Kind. Zunächst hielt ich die Übersetzung für nur bedingt interessant, weil es ja auch Übertragungen der Odyssee ins Deutsche gibt und eine von einem Nicht-Muttersprachler gelesene Übersetzung ins Englische immer eine gelinde Lektüreerschwernis mit sich bringt, doch dann häuften sich die Anzeichen (die ich ohne den ersten Hinweis vermutlich übersehen hätte), dass es anders sein könnte, beispielsweise Artikel in der NYT, im Guardian und anderswo.
Ich las dann eine Weile auf Wilsons Twitteraccount mit, und was sie dort an Details zur Übersetzung erzählte, zeigte, dass ich hier eine Menge lernen könnte. Beispielsweise belegt Wilson im Thread zur Sirenenepisode den Einfluss des männlichen Blicks der Übersetzer auch auf inhaltliche Aspekte der Übersetzung, sodass die Sirenen, die durch ihr Wissen verführen wollen, stattdessen als körperlich verführerisch sexualisiert werden. Dass die Übersetzung (»Lippen« statt »Münder« für στομάτων) nicht nur vom Wort her falsch ist, sondern auch den Sinn im Kontext verfälscht (Münder sind für Odysseus bei Homer immer bedrohlich, Lippen nicht; dieser Gegensatz wird in vielen bisherigen Übersetzungen nivelliert), zeigt, dass es tatsächlich um Details geht, wenn Übersetzer*innen ans Werk gehen, und dass (bewusste oder unbewusste) Vorstellungen und Intentionen dabei eine gewichtige Rolle spielen.
In meiner Zivildienstzeit las ich begleitend zum Ulysses die Schadewaldtsche Prosaübertragung; Voß’ Verse waren mir immer zu sperrig, um mehr als nur einzelne Stellen goutieren zu können. Wilsons Versübertragung hingegen ist (auch allein und heimlich laut gelesen) rhythmisch ein Genuss, auch wenn sie – wiederum wohlbegründet – die originalen Hexameter nicht etwa abzubilden versucht, sondern stattdessen jambische Pentameter nutzt, um mittels einer dem aktuellen Alltagsenglisch nahen Sprache einerseits die Inhalte genau zu übersetzen, andererseits aber gerade durch den Verfremdungseffekt des nicht künstlich archaisierenden Ausdrucks zu verdeutlichen, dass Homers Original wie die Zeit, von der er erzählt, fern bleiben müssen.
Neben ausführlichen Anmerkungen zur Übersetzungsarbeit finden sich dem Text vorangestellt auch eine Einführung in den historischen und kulturellen Hintergrund, zum Autor (inklusive der homerischen Frage) und Text, zu einzelnen Figuren und -gruppen etc.
Ihre Anmerkungen beendet Wilson mit den – sowohl auf die Figur Odysseus als auch auf den Text anwendbaren – Worten:
Ein empfehlenswertes Bildungserlebnis!
(Nachtrag 19. Oktober 2018: ausführliche Rezension von Julia Rosche bei TraLaLit.)
Den ersten Hinweis auf die neue Übersetzung der Odyssee durch Emily Wilson bekam ich von unserem E-Kind. Zunächst hielt ich die Übersetzung für nur bedingt interessant, weil es ja auch Übertragungen der Odyssee ins Deutsche gibt und eine von einem Nicht-Muttersprachler gelesene Übersetzung ins Englische immer eine gelinde Lektüreerschwernis mit sich bringt, doch dann häuften sich die Anzeichen (die ich ohne den ersten Hinweis vermutlich übersehen hätte), dass es anders sein könnte, beispielsweise Artikel in der NYT, im Guardian und anderswo.
Ich las dann eine Weile auf Wilsons Twitteraccount mit, und was sie dort an Details zur Übersetzung erzählte, zeigte, dass ich hier eine Menge lernen könnte. Beispielsweise belegt Wilson im Thread zur Sirenenepisode den Einfluss des männlichen Blicks der Übersetzer auch auf inhaltliche Aspekte der Übersetzung, sodass die Sirenen, die durch ihr Wissen verführen wollen, stattdessen als körperlich verführerisch sexualisiert werden. Dass die Übersetzung (»Lippen« statt »Münder« für στομάτων) nicht nur vom Wort her falsch ist, sondern auch den Sinn im Kontext verfälscht (Münder sind für Odysseus bei Homer immer bedrohlich, Lippen nicht; dieser Gegensatz wird in vielen bisherigen Übersetzungen nivelliert), zeigt, dass es tatsächlich um Details geht, wenn Übersetzer*innen ans Werk gehen, und dass (bewusste oder unbewusste) Vorstellungen und Intentionen dabei eine gewichtige Rolle spielen.
In meiner Zivildienstzeit las ich begleitend zum Ulysses die Schadewaldtsche Prosaübertragung; Voß’ Verse waren mir immer zu sperrig, um mehr als nur einzelne Stellen goutieren zu können. Wilsons Versübertragung hingegen ist (auch allein und heimlich laut gelesen) rhythmisch ein Genuss, auch wenn sie – wiederum wohlbegründet – die originalen Hexameter nicht etwa abzubilden versucht, sondern stattdessen jambische Pentameter nutzt, um mittels einer dem aktuellen Alltagsenglisch nahen Sprache einerseits die Inhalte genau zu übersetzen, andererseits aber gerade durch den Verfremdungseffekt des nicht künstlich archaisierenden Ausdrucks zu verdeutlichen, dass Homers Original wie die Zeit, von der er erzählt, fern bleiben müssen.
Neben ausführlichen Anmerkungen zur Übersetzungsarbeit finden sich dem Text vorangestellt auch eine Einführung in den historischen und kulturellen Hintergrund, zum Autor (inklusive der homerischen Frage) und Text, zu einzelnen Figuren und -gruppen etc.
Ihre Anmerkungen beendet Wilson mit den – sowohl auf die Figur Odysseus als auch auf den Text anwendbaren – Worten:
There is a stranger outside your house. He is old, ragged, and dirty.
He is tired. He has been wandering, homeless, for a long time, perhaps many years. Invite him inside. You do not know his name. He may be a thief. He may be a murderer. He may be a god. He may remind you of your husband, your father, or yourself. Do not ask questions. Wait. Let him sit on a comfortable chair and warm himself beside your fire. Bring him some food, the best you have, and a cup of wine. Let him eat and drink until he is satisfied. Be patient. When he is finished, he will tell his story. Listen carefully. lt may not be as you expect. [Ebd., 91]
He is tired. He has been wandering, homeless, for a long time, perhaps many years. Invite him inside. You do not know his name. He may be a thief. He may be a murderer. He may be a god. He may remind you of your husband, your father, or yourself. Do not ask questions. Wait. Let him sit on a comfortable chair and warm himself beside your fire. Bring him some food, the best you have, and a cup of wine. Let him eat and drink until he is satisfied. Be patient. When he is finished, he will tell his story. Listen carefully. lt may not be as you expect. [Ebd., 91]
Ein empfehlenswertes Bildungserlebnis!
(Nachtrag 19. Oktober 2018: ausführliche Rezension von Julia Rosche bei TraLaLit.)