[Dieser Text erschien erstmals im
Rundbrief des Fachverbandes Deutsch im Deutschen Germanistenverband, Landesverband Schleswig-Holstein/Hamburg.]
Den das Fach Englisch unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen sind sie vermutlich schon länger bekannt:
tiny tales – Geschichten noch kürzer als Kürzestgeschichten.
Mit Florian Meimbergs
Auf die Länge kommt es an ist ein aktueller Anlass erschienen, die winzigen Geschichtchen auch einmal im Deutschunterricht als kreativen Schreibanlass auszuprobieren (passenderweise nur eine Kleinigkeit, aber eine, die den S durchaus Freude bereitet, weil sie ähnlich wie das eigene Schreiben von Haikus und ähnlichen kleinen Formen einerseits herausfordernd, andererseits durchaus beherrschbar ist – optimal mithin, um in den von Mihaly Csikszentmihalyi für solcherlei Tätigkeiten prophezeiten
Flow zu geraten).
Meimberg veröffentlichte auf seinem
Twitter-Account fortlaufend kleine Geschichten, die aufgrund der technischen Begrenzung des Nachrichtendienstes auf höchstens 140 Zeichen festgesetzt sind. Viele dieser
tweets sind jetzt in der schon erwähnten gedruckten Form erschienen, sodass Sie einige davon für den Unterricht auswählen können. Im Unterricht kann dann zunächst die Konstruktion dieser Geschichten analysiert und dann nachgebastelt werden. (Möglich ist es natürlich, diese Texte nicht nur als Twitter-Texte mit der dort gegebenen Zeichenbeschränkung zu
simulieren, sondern sie dort unter einem Klassen-/Kursaccount auch zu
publizieren …)
Zwei Beispiele zur Verdeutlichung, von denen das zweite näher betrachtet werden soll:
»Trick or Treat?« Die verkleideten Kinder strahlten die Rentnerin an. »Kommt doch rein«, sagte die Kreatur. Sie schwitzte unter der Maske. (Meimberg, 109)
Behutsam setzte Dr. Perez das Skalpell an. Mit einem feinen Schnitt durchtrennte er das Gewebe. Grelles Tageslicht flutete herein. (Meimberg, 55)
In den ersten beiden Sätzen wird durch die Skizze einer Situation eine Erwartung evoziert, die mit dem letzten Satz gezielt enttäuscht wird. Während der Leser die ersten beiden Sätze beispielsweise als Beschreibung einer Operation liest, findet im dritten Satz ein Perspektivwechsel statt: der Leser sieht nicht mit Dr. Perez
von außen auf etwas Operiertes, sondern offenbar
von innen! Die Situation muss also eine vollkommen andere als die zunächst vorgestellte sein – welche, ist der Vorstellungskraft des Rezipierenden überlassen. Das Spiel der im Sinne Ecos offenen Texte mit Schauer-, Horror- und anderen Genre- und Popkulturelementen bereitet sowohl Lesern wie auch nach diesem Muster kreativ schreibenden Schülern Vergnügen – und wer erst einmal mit dem Schreiben der kurzen Texte begonnen hat, will vielleicht auch die lange Version schriftlich fassen …