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Gelesen. Schönthaler.

Philip Schönthaler: Der Weg aller Wellen. Berlin: Matthes & Seitz, 2019.

In einer nicht fernen hochtechnisierten Welt verliert der Protagonist den Zugang zu seinem Arbeitsplatz im »Ring« dem Hauptquartier einer Firma à la GAFA, weil die Scanner an den Zugangsschleusen seine biometrischen Merkmale nicht mehr erkennen. Da auch die Shuttles zum Ring von der Firma betrieben werden, wird er gleichzeitig immobil und zum in seiner professionellen Selbstsicherheit erschütterten Paria – umso mehr, als sich niemand für den Fall zu interessieren scheint und die Hotline-Mitarbeitenden sein Anliegen kühl abperlen lassen, da das Beschäftigungsverhältnis aufgrund eines Datenbank-Fehlers nicht nachgewiesen werden kann. Schließlich verliert er seine per Fingerabdruckscanner gesicherte Wohnung und flüchtet aus der Stadt in eine Kommune von Aussteigern, die sich so freundlich gespalten zeigt wie Trumps USA.

Die verfremdend genauen Beschreibungen erinnern mich an Leif Randts Dystopien, und in ihrer Deskriptionsakribie liegt auch hier die auf U4 zitierte »antiromantische« Tendenz des illusionslosen Erzählens Schönthalers. Letzteres ist nicht ohne Reiz!

»Gute« Literatur lässt offen, was Genreerzählen – möglicherweise romantisierend – konkretisieren würde (Beispiel: Suarez’ Darknet), macht es sich damit auch bequem, weil sie das Problem – die Technik, die Menschen, tumb wie sie sind – in zynischer Erkenntnisfreude zeigt und damit ihren Teil geleistet zu haben glaubt. Dem scheiternden Kommunenhäuptling legt Schönthaler das Bonmot »Probleme erfordern Lösungen, keine Klage.« (ebd., 198) in den Mund. Daran fehlt es Literatur.

Gelesen. Berg.

Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022.

Dass der Trend aus dem Jugend-/All-Age-Buch, den Plot immer mindestens auf drei Bände aufzuteilen, nun auch auf die ernsthafte Literatur übergreift, muss nicht positiv sein: GRM Brainfuck habe ich als singuläres literarisches Ereignis begriffen und gelesen, von einer Wucht, die ihresgleichen sucht (und auch nicht zwingend der Ergänzung bedarf). Dass dies Gestaltungsprinzip nun weitere fast 700 Seiten trägt (und noch weitere tragen müssen wird), scheint mir nicht unbedingt überzeugend.

Auch dieses neue Buch ist nun eine Enzyklopädie scheiternder Menschheit – wer Gründe für die Annahme sucht, dass diese Welt nicht bestehen wird, schlage eine beliebige Seite auf und lasse sich ein paar Sätze um die Ohren hauen – und dass der Anschlag auf das System (Obacht: Spoiler!) diesmal glücken wird, ist in Anbetracht der gargantuesken Fülle der Dummheit des Menschen, für die Berg fleißig Belege gesammelt hat, eher dünn motiviert und nicht wirklich glaubwürdig. Da habe ich in Genretiteln wie Suarez’ Daemon und Darknet Besseres gefunden.

Gelinde Spannung immerhin entsteht aus der Frage, was Berg denn bald im dritten Band präsentieren wird. Denn für Selbstorganisiation in technisierten Hippiekommunen als Zukunft der Menschheit, wie sie Suarez vorstellt, scheint mir Berg nicht trommeln zu wollen.

Neue Essay-Themen: Distelmeyer, Baumann, Popper, Suarez, Wittgenstein, Arendt.

Ein weiterer Essay-Durchgang ist an der Reihe. Die Themen diesmal:

1. Jochen Distelmeyer: Wohin mit dem Hass? [Dis09] (Video mit nerviger Werbung.)

2. Die Suche nach Vorbildern, Beratung und Orientierung hat Suchtcharakter: Je mehr man es tut, desto mehr braucht man es und desto größer das empfundene Unbehagen, wenn der Nachschub ausbleibt. Alle Abhängigkeiten sind als Mittel der Befriedigung des Bedürfnisses selbstzerstörend, sie zerstören die Möglichkeit dauerhafter Befriedigung überhaupt. [Bau03, 88]

3. Unsere Unwissenheit ist grenzenlos und ernüchternd. [Pop04, 79]

4. Nehmen Sie die Aufgabe an, eine Rechtfertigung für die Freiheit der Menschen zu finden […]? »Ja« oder »nein«? [Sua11, 619]

5. Laß uns menschlich sein – [Wit84, 492]

6. Der Platz des denkenden Ichs in der Zeit wäre der Zwischenraum zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Gegenwart, jenes geheimnisvolle und schlüpfrige Jetzt, eine bloße Lücke in der Zeit, auf die nichtsdestoweniger die festeren Zeitformen der Vergangenheit und der Zukunft insofern hingeordnet sind, als sie das bezeichnen, was nicht mehr ist, und was noch nicht ist. Daß sie überhaupt sind, verdanken sie offensichtlich dem Menschen, der sich zwischen sie eingeschoben und dort seine Gegenwart eingerichtet hat. […]

[Hier folgt im Original eine Abbildung, die den S auch vorliegt.]

Im Idealfall sollte die Wirkung der beiden Kräfte, die unser Parallelogramm bilden, in einer dritten Kraft resultieren, der Diagonalen mit dem Ursprung an dem Punkt, an dem sich die Kräfte treffen und auf den sie wirken. […] Diese Diagonalkraft, deren Ursprung bekannt ist, deren Richtung durch Vergangenheit und Zukunft bestimmt ist, deren Kraft aber auf ein unbestimmtes Ende hinzielt […], sie scheint mir eine vollkommene Metapher für die Tätigkeit des Denkens. [Are77, 204f.]

[Are77] Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München : Piper, 1989 (EA 1977) (SP 705)
[Bau03] Baumann, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main : Suhrkamp Taschenbuch, 2003 (es 2447)
[Dis09] Distelmeyer, Jochen: Heavy. Columbia, 2009
[Pop04] Popper, Karl R.: Auf der Suche nach einer besseren Welt: Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. 13. Aufl. München : Piper, 2004 (sp 699)
[Sua11] Suarez, Daniel: Daemon. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt Taschenbuch, 2011 (rororo 25643)
[Wit84] Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. In: Über Gewißheit. Werkausgabe Bd. 8. Frankfurt am Main : Suhrkamp Taschenbuch, 1984 (stw 508)