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Gelesen. Kurzeck.

Peter Kurzeck: Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1979.

Einen kommerziellen Erfolg dürfte Stroemfeld/Roter Stern mit diesem Buch nicht erzielt haben: bestellt man es heute in der Buchhandlung seines Vertrauens, bekommt man die Erstausgabe von 1979 geliefert (englische Broschur, fadengeheftet). Es bereitet mir eine gewisse Freude, mir vorzustellen, was junge Absolvent_innen eines BWL-Studiums zu dieser Lagerhaltung sagen würden (und es sollte klar sein, auf wessen Seite meine Sympathien liegen). – Im Archiv der Zeit übrigens findet sich dankenswerterweise öffentlich verfügbar auch eine Rezension der damaligen Neuerscheinung.

Das erste Buch (und/oder frühe Fassungen desselben) geschätzter Autor_innen muss natürlich gelesen werden, und so manches Mal zeigt es in besonderer Weise und noch eher unverstellt positive Eigenheiten, die später im routinierteren, abgeklärten Schreiben nicht mehr sichtbar sind. Joyces Stephen Hero ist so ein Fall, Johnsons Ingrid Babendererde auch.

Im Falle Kurzecks scheint mir der Fall anders zu liegen. Ausgehend von den guten Leseeindrücken von zweieinhalb Bänden des Romanprojekts »Das alte Jahrhundert« ist der Nußbaum-Band ein fast krudes Gemisch unterschiedlicher Stile und Ebenen; eher unbeholfen aufsässig-aggressive Beschreibungen kleinbürgerlicher Existenzen in naiver Selbstgerechtigkeit und Großmannstum werden immer wieder durch Ergänzungen in Klammern und Assoziationen in Parenthesen unterbrochen, allerdings so, dass es sich weder zum stimmigen Bild fügt noch radikal genug wäre, um als nietzschesche »Umwertung aller Werte« poetisches Neuland betreten zu können.

Neben der eigentlich erzählten Geschichte (die vermutlich weitgehend die des Alkoholikers und Gefängnisinsassen Kurzeck ist) wird über weite Strecken ein Bild von Wirklichkeit gezeichnet, das unbarmherzig sein will, aber doch nur traurig wirkungslos aufbegehrt, bevor der nächste Wein mit Schnaps verstärkt wird. Ganz abgesehen davon habe ich den Eindruck, dass das destruktive Umsichschlagen in Form ätzender Kritik eigentlich nicht Kurzecks Naturell entspricht, sondern eher die gehorsame Erfüllung einer (vielleicht ihrerseits wieder nur vorgestellten) Erwartungshaltung an den gesellschaftlich engagierten Schriftsteller der späten 1970er Jahre darstellt.

Formal übrigens ähneln die Absätze häufig genug Arno Schmidts Vorstellungen von moderner Prosa, wie dieser sie wiederum 20 Jahre vorher (!) in den »Berechnungen« vorstellt (In: Rosen & Porree. S. Fischer: Frankfurt am Main, 1984. S. 283 ff.11: Dies ist ein Reprint der Erstausgabe bei Stahlberg, 1959. Die Reprints waren Fischer ebenso wie Taschenbücher vertraglich erlaubt, Neueditionen sollte es dann nur noch bei Haffmans geben, vornehmlich in der Bargfelder Ausgabe, die nach dem Dahinscheiden des Haffmans-Verlages bei Suhrkamp weitergepflegt wird und an sich Zitierreferenz ist. Steht hier aber leider nicht im Regal.) und in frühen Texten zumindest von der äußeren Struktur her übt: ein »Foto« der Erinnerung wird beim Leser evoziert durch die Benennung eines Sachverhalts zu Beginn eines Absatzes – bei Schmidt häufig durch Kursivierung und hängenden Einzug hervorgehoben –, der dann in den folgenden Sätzen assoziativ ausgearbeitet wird:

Noch grade liegen: Kaumlicht. (Also Hypolampuses Hemeras).

Der Hof: füllte sich mit Schallspuren: Tritte zogen knopfige Reihen. Am Fenster vorbei. Gäule rammten prallbündel aufs Pflaster. (Quieke hoppelten; Rufe pendelten drüber weg).

Rasch draußen umsehen: das Jammerbild des Mondes, Einer der verdrossen am Eierkopf hängt, mikrokephal, schlotterte durch Wolkenschlafröcke; genickschüssig.

[Arno Schmidt: »Kosmas oder Vom Berge des Nordens«. Rosen & Porree. 185 f.]

Viele solcher Einzelbeobachtungen bilden dann den Gesamteindruck. – Bei Kurzeck finden wir das ganz ähnlich; der erste Satz markiert jeweils die Situation, die im Folgenden ausgeführt wird:

Heimwege, »ich bin fremd hier!« Zwei Straßen weiter (wie vorbestimmt, doch ich hatte meinen Namen vergessen, wie mein Herz klopft) findest du unversehens eine rotweißgrüngestreifte italienische Eckkneipe (als ob du sie von je her gekannt hättest – nachher weiterfahren!), wo du bei offener Tür kannst sitzen in zeitlosem Frieden und guten Espresso trinken. Kaum Gäste, Zeit im Spiegel: Morgensonne zu Füßen. Der Wirt, ein Römer, berechnet langwierig seinen Gewinn pro Minute-Stunde-Jahr-Tag usw., lautlos, die Lippen gespitzt (wenn ich jetzt einen Cynar bestelle, lieber noch Grappa, dann muß er nochmal wieder ganz von vorn anfangen: sein Leben neu ordnen). Ein kleines frühreifes Tigerkätzchen streicht schattenhaft, ganz verwundert, tapsig-behend um viele verlassene Tischbeine. »Hier kennt mich keiner!«** Zwischendurch, im selbstvergessenen dösenden Spiegel sah ich wie ein besessener blauäugiger Araber aus, der sein Mekka sucht, Müdigkeitseuphorien! [Diese Randnote im Original als Fußnote.] Und Espresso trinkend stundenlang alte Platten spielen, ganz für dich: den ganzen leeren sonnigen Samstagmorgen, streck die Füße untern Tisch. »Blueberryhill«

»Zeit-zu-fahren!« Wie mit Kreide die südliche Ausfallstraße, meine damalige fixe Idee, flimmernde weiße Linie, täglich , endlos: kaum einen Steinwurf weit (Himmel wolkenlos, Zeitzufahren.) »Alle künftigen Katastrophen meilenweit weg und ganz und gar unwahrscheinlich, undenkbar!« (Die Abdrift der Kontinente)

[Kurzeck: Nußbaum. 28 f.]

Daneben sind Elemente seines späteren Schreibens wie das wiederholte motivhafte Aufnehmen von Situationen schon hier nachweisbar, wenn beispielsweise der Besuch bei den Schwiegereltern und ihre Eigenheiten variierend wiederholt beschrieben werden (186 und 294).

Bei alledem hat dieses frühe Werk die Vorfreude auf den Vorabend eher noch verstärkt. (Vorher sind aber noch ein paar andere Bücher dran.)

Buchhändler meines Vertrauens (1).

Timo Off hat mal zur Blogparade aufgerufen, und da gerade unterrichtsfreie Zeit ist war (Herbstferien haben nur Schülerinnen und Schüler, denn irgendwer muss ja die 19 Gedichtinterpretationen (Deutsch) und 39 Essays (Philosophie) durchsehen und benoten sowie sich auf die neue Unterrichtseinheit zu Christa Wolfs Medea. Stimmen vorbereiten), fühle ich mich gemeint.

Meine ersten Bücher wurden mir nicht in städtischen Buchhandlungen, sondern eher in dörflichen Schreibwarenläden gekauft. Es waren meist fragwürdige Inhalte, illustriert mit Bildern, deren dem Zeitgeschmack entsprechende wuchtige Niedlichkeit im Angesicht heutiger Kinderbücher kaum mehr vorstellbar ist. Nicht Oetinger, sondern Pestalozzi, Boje oder PEB stand auf den meisten dieser Bücher, wenn überhaupt ein Verlag genannt wurde; auch Pixi-Bücher gab es.

Meine liebste Buchhandlung war dann im Grundschul- und frühen Sekundarschulalter die Buchabteilung bei Karstadt (vor dem Aufkommen der Filialisten übrigens größte Buchhandlung Deutschlands), denn dort waren stets alle Reihen der Schneider-Bücher verfügbar, die Serie Geheimagent Lennet des geheimnisvollen Leutnant X ebenso wie Jo Pestums Kinderkrimis um Privatdetektiv Luc Lucas. Beratung war in dieser Zeit für mich nicht notwendig, alle für mich interessanten Reihen kannte ich, und da die für mich adäquaten Titel durch blaue Rückenbeschriftung (die Mädchenbücher trugen rosarot) gekennzeichnet waren, war die Gefahr des Fehlgriffs klein (die Mädchenserien Dolly, Tina und Tini, Trixie Belden, Hanni und Nanni las ich dann in den Sommerferien bei meiner Cousine).

Die Buchhandlungen meiner Schulzeit waren dann vor allem die Buchhandlung Schneider sowie Lipsius & Tischer in Kiel, die es inzwischen beide nicht mehr gibt – einer der Gründe für diese Entwicklung ist sicher die damalige Buchhandlung Weiland (heute Hugendubel), die den Filialbuchhandel nach Kiel brachte und es mit damals gänzlich ungewohnten Flächen am Alten Markt den alteingesessenen Buchhändlern schwer machte ... Beratung allerdings brauchte ich immer noch nicht, denn das Stöbern in einer Menge von Büchern ist das eine Entscheidende, Ratschläge von Freunden das andere.

Wie besonders eine Buchhandlung sein kann, habe ich in der Freiburger Buchhandlung zum Wetzstein erfahren, in der ich für meine Zeit im Süddeutschen Stammkunde war: eine Buchhandlung mit klar literarischer und allgemein geisteswissenschaftlicher Ausrichtung mit (für mich zu) hochpreisigem Antiquariat (aber ohne Kochbücher, medizinische Ratgeber und ähnliche Bereiche), in der ich Ransmayrs Die letzte Welt und Arno Schmidts Romane in den schönen Ausgaben bei S. Fischer entdeckte (hier ein paar fotografische Eindrücke). Was im Wetzstein in den Regalen stand, war lesenswert, dessen konnte man gewiss sein – und mehr als einmal habe ich erlebt, wie Kunden, die beispielsweise nach nicht ins Sortiment passenden Schmonzetten aus Bestsellerlisten fragten, freundlich, aber bestimmt an Rombach, Walthari und andere Mitbewerber verwiesen wurden. Auch hier schätzte ich in erster Linie die Zurückhaltung des Inhabers Thomas Bader, der zwar sehr genau wahrnahm und sich merkte (vor den Tagen von Warenwirtschaftssystemen und Kundendatenbanken), welche Vorlieben die letzten Lektüren prägten, und durch gezieltes Vorlegen von ein, zwei Titeln diese Vorlieben stärken oder einen passenden Anstoß in eine andere Richtung geben konnte, im Regelfall aber schlicht durch die Auswahl des Sortiments, mithin die Bestückung der Regale und Auslagetische wirkte: der gute Buchhändler feilt mit jeder Bestellung fürs Sortiment an der Profilierung desselben; um aber dergestalt ein gutes Sortiment zusammenstellen zu können, braucht man ein profundes Wissen und großes Interesse an den jeweiligen Spezialthemen. Der Kunde kann in einer solchen Buchhandlung folglich ohne Beratung bleiben und stöbern, denn es gibt zwar Bücher, für die er sich derzeit nicht interessiert – aber keinen Mist. Übrigens wurde in dieser Buchhandlung Pfeife geraucht.

(Teil 2 folgt mal bei Gelegenheit, aber da die unterrichtsfreie Zeit – husch! – schon wieder vorbei ist, will ich vorm Einsendeschluss zumindest einen ersten Teil liefern.)

Neues Schuljahr, neues Glück.

Eine Woche des neuen Schuljahrs ist vorbei, damit viel Organisatorisches, was mit dem Unterrichten noch gar nichts zu tun hat. Was ich unterrichten darf:

Einen zum Zentralabitur führenden Deutschkurs im 13. Jahrgang mit der Korridorformulierung »Literarische Moderne zwischen Tradition und Postmoderne – Die Idee des Neuen / Technik- und Menschenbilder in Lyrik des Expressionismus und der Literatur der Gegenwart« – da ist zwischen Pinthus' Menschheitsdämmmerung und ganz aktueller Literatur alles drin, und es ist schade, dass nicht mehr Zeit bleibt: lese ich Brechts Leben des Galilei, bleibt keine Zeit für Hasenclevers Der Sohn und Schnitzlers Traumnovelle, lese ich Frischs Homo faber (nicht neu, aber funktionierend), kann ich mir Schmidts Schwarze Spiegel nicht erlauben etc. Mal sehen. Ransmayrs Die letzte Welt führte früher mal nicht zu Begeisterungsstürmen, also vielleicht doch lieber Süskinds Das Parfum? Und Kafka sollte auch nicht vergessen werden …

Die S des neuen Deutschkurses mit erhöhtem Anforderungsniveau (früher: Leistungskurs) werde ich zunächst anhand von Kurzprosa (erste Geschichte: Uwe Johnsons »Osterwasser«) kennen lernen, danach werden wir Jugendbezogenes (Wedekinds Frühlings Erwachen; Horváths Jugend ohne Gott; Herrndorfs Tschick gibt's leider noch nicht als Taschenbuch ...) lesen und Grundlagen des Arbeitens mit unterschiedlichen Arten von Literatur einüben. Ich habe hier mehr Stunden zur Verfügung als im anderen Kurs, insofern möchte ich auch die Zusammenarbeit über Onlinewerkzeuge thematisieren, ohnehin der Reflexion über Methoden und Lernstrategien einen größeren Raum einräumen.

In der Philosophie habe ich wie stets je zwei Kurse im 11. und 12. Jahrgang, die mit der Einführung in die Philosophie und anthropologischen Fragestellungen (11) bzw. der Epistemologie (12) starten; außerdem werden wir im 13. Jahrgang in Vorbereitung auf das Abitur mit einem vertieften ethischen Thema, gesellschaftlichen Fragestellungen und Fragen der Medienphilosophie (leider wieder keine philosophische Ganzschrift ...) befasst sein.

Im Buchhandel unterrichte ich zum letzten Mal das Lernfeld »Weitere Warengruppen erschließen« nach altem Lehrplan; der nächste Durchgang an Auszubildenden darf im Unterricht den neuen kompetenzorientierten Lehrplan, an dessen Erstellung ich mitarbeiten durfte, auf seine praktische Eignung überprüfen … wir werden sehen.

Darüber hinaus habe ich mir aus dem Fortbildungsangebot des IQSH schon ein paar Fortbildungsangebote ausgesucht, die ich besuchen möchte, damit ich auch etwas außerhalb meines Unterrichts dazu lerne.

Gelesen. Schmidt.

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006.

Überlegung, ob dies etwas für meinen Deutschkurs im 13. Jahrgang sei: nicht nur Anti-Utopie, sondern zudem Gegenwelt zur Lebenswelt der S: diese übervoll, die Erlebenden aber (noch) orientierungslos, jene entleert von Mensch und Ereignis, der Protagonist aber zuhause im Geist. Vielleicht zu abschreckend der schmidtschen Eigentümlichkeiten wegen?

[Auch hier wieder Freuden der Intertextualität, zum Beispiel die Thematisierung Herodots.]