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Gelesen. Steiner.

George Steiner: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos. Übertragen von Martin Pfeiffer. Berlin: Suhrkamp, 2014.

Das Zeit-Interview anlässlich des fünfundachtzigsten Geburtstags des Befragten weckte mein Interesse, und da ich mit S gerade Zehs Corpus Delicti lese, in dem das Antigone-Motiv den Hintergrund für die Dystopie bildet,1 1: »Zehn Minuten Zeh« zur Einführung ins Thema gibt’s hier. hielt ich die Lektüre des oben genannten Buches für sinnvoll – tatsächlich hat es sich als sehr reichhaltig erwiesen.

Drei Kapitel hat das Werk:2 2: Die Kapitel sind unbenannt; auch die im Folgenden angeführten Abschnitte tragen keine Titel. Die inhaltlichen Schwerpunkte habe ich so gesehen, andere mögen andere erkennen. im ersten gibt Steiner einen Überblick über die Rezeptions- und Interpretationshistorie des Mythos (Abschnitte 2 und 3: Hegel, 4: Goethe, 5: Kierkegaard, 6 und 7: Hölderlin, 8: Synopse), im zweiten versucht er aus dem jeweiligen kulturellen Zusammenhang und den Schwerpunktsetzungen bei unterschiedlichen Bearbeitungen eine Erklärung für die Bedeutung des Mythos bis heute zu gewinnen (1: Entstehung des Mythos, 2: Historische Aktualität an Beispielen, 3: Stellung und Funktion Ismenes, 4: Haimon und Polyneikes in ihrer Relation zu Antigone, 5: Der Chor, 6 und 7: Kreon, 8: Synopse und Ausblick auf unberücksichtigte Varianten), im dritten schließlich offenbart Steiner die Verständnisschwierigkeiten, die der moderne Leser auch unter der Voraussetzung herausragender Altgriechischkenntnisse immer haben muss (1: Grundlegende Problematik des Übersetzens, 2: Der erste Vers, 3 bis 6: Andere Stellen, die unter Rückgriff auf Übersetzungsvarianten und Kontext diskutiert werden, 7 und 8: Erkenntnis des endgültigen Verlusts, 9: Synopsis und Würdigung).

Steiner zu lesen ist nicht immer unanstrengend, weil der Text dicht und anspielungsreich ist, aber man kann eben auch eine Menge lernen. Eigentlich mit Blick auf die Schule gelesen, habe ich mir ein paar Stellen notiert, zum Beispiel eine Aussage über die Tragödie, die vielleicht einmal problematisierend eingesetzt werden kann:

Weil sie flüchtige Momente in menschlicher Ungewißheit isoliert und aufführt, weil sie Verhalten bis zur Grenze der Katastrophe belastet – Katastrophe ist ja die letztendliche Logik des Handelns –, hat die Tragödie in besonderer Weise philosophischen »Gebrauch« angeregt. Der utilitaristische Impuls ist schon in Aristoteles’ Poetik offenkundig. Die Tragödie dient dazu, beständig wiederkehrende metaphysisch-ethisch-psychologische Betrachtungen über das Wesen des freien Willens, über die Existenz anderer Geister und Personen und über die Konventionen im Hinblick auf Vertrag und Übertretung zwischen dem Individuum und transzendenten oder gesellschaftlichen Sanktionen zu verkörpern, zu sichtbarer Gegenwärtigkeit anzutreiben. (Ebd., 130)

In diesem kleinen Textausschnitt steckt eine Menge an diskutierenswerten Ansätzen, die am jeweils behandelten dramatischen Text probiert werden können. (Worin besteht (im Hinblick auf Tragödie X) der »flüchtige Moment«, worin die »Ungewißheit«; wieso ist die »Katastrophe […] die letztendliche Logik des Handelns«? Ist die Tragödie tatsächlich durch ihre (tatsächliche?) Nützlichkeit in ihrem Wesen erfasst? Worin besteht jeweils das Metaphysische, das Ethische, das Psychologische? Und so fort. – Das ist so voller problematisierendem Futter, dass der Lehrer, der gerade unterrichtsfreie Zeit hat, schier bersten könnte!)

An anderer Stelle zieht Steiner Döblins Roman November 1918 heran, den ich peinlicherweise nicht zu kennen zugeben muss. Er zitiert eine Stelle, an der eine Lehrkraft Antigone, die doch immer als Revolutionärin verstanden wird, umdeutet als wahrhaft Konservative, während Kreon den Part des Umstürzlers zugewiesen bekommt:

Ja, er in seinem in der Tat tyrannischem Willen, in seinem Stolz, Sieger und endlich König zu sein, er glaubt, sich über geheiligte Traditionen, über uralte Selbstverständlichkeiten hinwegsetzen zu können.« (Döblin nach Steiner 233f.)

– Fantastisch! Das ist eben nicht nur eine beliebige Umdeutung, sondern eine, über die man ja durchaus streiten darf und sollte (und die Anwendbarkeit auf heutige Zeiten, in denen Bürger irritiert bemerken, dass sich Geheimdienste und Regierungen einen Dreck scheren um den zivilen Konsens rechtlichen Handelns, der mit dem Grundgesetz und den Entscheidungen des Verfassungsgerichts in langen Jahren erarbeitet wurde, ist noch eine weitere interessante Nuance: hier wird eben auch sichtbar das Beiseitewischen einer von den Bürgern geschätzten Tradition rechtsstaatlichen Handelns).

(Wir sollten vielleicht einmal Stellen in der Literatur sammeln, in denen einzelne L (anders als gemeinhin im Schulroman, in dem die S ja im Regelfall unterm System zu leiden haben) positiv mit Literatur arbeiten – die Johnsonsche Jahrestage-Stelle, in der Fontane gelesen wird, ist ja auch ein Beispiel.)

Das Übersetzungs- bzw. Übertragungsproblem wird immer wieder thematisiert: aus einer fremden Sprache, aus einer alten fremden Sprache, die nicht mehr gesprochen wird, zu übersetzen, wird im Grunde als kaum möglich angesehen:

Das Leben der Anklänge, die unentbehrliche Kurzschrift des Unausgesprochenen und des Selbstverständlichen, die Codes von Intonation, von Hervorhebung oder Untertreibung im Tonfall wie sie im Verkehr zwischen sozialen Klassen, Altersgruppen oder Geschlechtern eine Rolle spielen – alles, was in einer lebenden gesprochenen Sprache einzelne Worte und Wendungen mit genauen oder diffusen Werten umgibt, ist für den Wissenschaftler nahezu ebenso verloren wie für den Laien. (253)

Das hindert Steiner allerdings nicht daran, auf den folgenden elf Seiten die erste Zeile der Antigone – Erste Zeile der Antigone des Sophokles– übersetzend auszudeuten; er bemerkt dabei selbst: »latent sind solche Kommentare endlos« (266). Dem Leser zeigen diese elf Seiten allerdings, was er an Vorentscheidungen in Kauf nimmt, wenn er nicht das Original zu Hand nimmt.

Die Bedeutung der Antigone sieht Steiner unter anderem darin, dass in dem Drama »alle Hauptkonstanten des Konflikts in der menschlichen Existenz« (287) ausgedrückt werden, die als »nicht überbrückbar« (ebd.) verstanden werden:

[…] die Konfrontation zwischen Männern und Frauen; zwischen Alter und Jugend; zwischen Gesellschaft und dem Individuum; zwischen den Lebenden und den Toten; zwischen Menschen und Gott/Göttern. (Ebd.)

Auch hier die Fragen: sind diese Hauptkonstanten die richtigen? Wieso diese und nicht andere, warum nicht mehr oder weniger? Wie sieht es mit der Unüberbrückbarkeit aus? (Vor allem im Hinblick auf das vorher postulierte nützliche Ziel der Tragödie: was hilft es mir als Rezipient zu erkennen, dass Antigone und Kreon sich fetzen, weil sie Mann und Frau sind, wenn dieser Gegensatz als unüberbrückbar und der Konflikt damit als nicht anders lösbar als mit dem Tod möglichst vieler Figuren gezeigt wird?)

Bei alledem, was Steiner gelehrt vor uns ausbreitet, geht er übrigens ganz selbstverständlich davon aus, dass »kein Leser des 20. Jahrhunderts völlig unvorbereitet auf die Antigone des Sophokles stößt« (368). Das stimmt natürlich nicht: unsere S kennen die Mythen der Sternen- und Ringkriege und wissen, welcher Seite der Macht sie zuneigen – Antigone allerdings dürfte bis zur Initialbegegnung in der Schule an ihnen vorbeigegangen sein.

Übrigens sei – in Anbetracht des von ihm zu Lernenden ja durchaus erstaunlich – erwähnt, dass Steiner selbst in Demut verharrt: nach 370 Seiten kenntnis- und beziehungsreichen Schreibens über Literatur (das ja wiederum Jahrzehnte des Lesens und Forschens auf den Punkt bringt), kommt er für sich zum Ergebnis:

Mein Verständnis von Antigone ist provisorisch. (370)

Na dann.

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Gelesen. Barker.

Pat Barker: Tobys Zimmer. Übertragen von Miriam Mandelkow. Zürich: Dörlemann, 2014.

In zwei Abschnitte ist das Buch geteilt: einen, 1912 spielend, in dem die eines Tages über das Erlaubte hinausgehende Liebe der jungen Malerin Elinor Brooke zu ihrem Bruder Toby geschildert wird, und einen zweiten, in dem Elinor 1917 erfährt, dass ihr Bruder als »vermisst, vermutlich gefallen« wohl nicht aus dem Krieg zurückkehren wird. Um seinen Tod rankt sich ein Geheimnis, das nach und nach aufgedeckt wird.

Thematisiert werden neben psychischen Verwerfungen, die das Ereignis zwischen den Geschwistern mit sich bringt, die Ausbildung Elinors, ihre Selbstwerdung (zu der natürlich das jungenhafte Kürzen der Haare, aber eben auch ein allgemein damals für Frauen ungewöhnlich selbstbewusstes Auftreten gehören), die freundschaftlichen und amourösen Beziehungen, in denen sie sich bewegt, die Ausbildung Elinors an der Kunstschule Slade, vor allem aber auch Elinors Umgang mit Tobys Tod.

Mir scheinen diese Aspekte teilweise recht formlos nebeneinander zu stehen, obwohl sie für sich genommen stilistisch fein ausgeführt sind; offenbar aber ist dieses Buch als einzelnes aber gar nicht abschließend zu beurteilen, denn es bewegt sich in einem in den Werken Barkers öfter besuchten Figurenkosmos (Elinor und ihr Freund Paul beispielsweise spielen auch in Life Class wichtige Rollen), und auch der Erste Weltkrieg als lebensbedeutsamer Einschnitt wurde schon in früheren Werken Barkers in Zentrum gestellt. Es gälte also im Umkreis weiter zu lesen.

Schon im Nachwort der Autorin findet sich ein Hinweis auf den im Buch fiktionalisierten, aber tatsächlich existenten Kunstlehrer an der »Slade School of Fine Art«, Henry Tonks, dem sie später in einem Hospital wieder begegnet, in dem vor allem Gesichtsverletzungen von Kriegsopfern behandelt werden. Hier dokumentiert er zeichnerisch, was junge Männer sich im Krieg gegenseitig antaten. Zeichnungen des realen Tonks finden sich [nur klicken, wenn du weißt, was du tust] hier.

(Abbildungen wie diese, allerdings in fotografischer Form in Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege, ließen mich den Kriegsdienst verweigern. Es sollte uns mit Sorge erfüllen, dass das Buch, nachdem es jahrzehntelang immer wieder neu aufgelegt wurde, momentan, da gelangweilte Zeitgenossen angesichts der Krise in der Ukraine einen dritten Weltkrieg herbeifaseln wollen, nicht lieferbar ist.)

Doch auch literarische Spuren werden in verschiedenste Richtungen gelegt; so ist schon der Titel eine Reminiszenz an Virginia Woolfs Jacobs Raum (in dem Erinnerungen an Woolfs Bruder Thoby (!) verarbeitet werden), die Bloomsbury Group findet sich auch in Anspielungen wieder. Das Antigone-Motiv spielt ebenso eine Rolle wie das des Inzests, zu Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gibt es eine Verbindung, und letztlich hat die Handlung eben auch etwas Kriminalistisches.

Es bleibt zu hoffen, dass Dörlemann mehr von Barker übersetzen lässt.

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