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Gelesen. Liew.

Sonny Liew: The Art of Charlie Chan Hock Chye. New York: Pantheon, 2015.

Ausgehend von einem Interview mit dem (fiktiven) alten Comiczeichner Charlie Chan Hock Chye breitet die Biografie sein Leben und Werk aus: Artefakte aus seinem Alltag, Dokumente unterschiedlicher Art, Comic-Reihen in verschiedenen Stilen und Genres begleiten die Geschichte eines ambitionierten Comic-Zeichners vor dem Hintergrund der politischen Historie Singapurs von der britischen Kronkolonie über den gescheiterten Zusammenschluss mit Malaysia zum eigenständigen Stadtstaat Singapur mit einem sehr eigenen Begriff von Rechtsstaat und Demokratie. Formal großartig, inhaltlich klug und lehrreich.

Gelesen. Enrigue.

Álvaro Enrigue: Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles. Übertragen von Carsten Regling. München: Blessing, 2021.

Eine Mexikanerin wird von Apachen entführt. Gokhlayeh, »der Gähnende«, bekannter als Geronimo, ergibt sich. US-Militärs werden für ihren Sieg über die Apachen gefeiert. Ein Schriftsteller in heutiger Zeit fährt mit seiner Familie auf Spurensuche in die Chiricahua-Berge. – Nur einige der vielen Handlungsstränge, mit denen Enrigue ein reich facettiertes Bild vom Ende der Apachería zeichnet: eines grenzenlosen Lebensraumes, der mit der Festlegung der Grenzen zwischen den USA und Mexiko, aber auch ihren jeweiligen Binnenstaatsgrenzen aufgrund des Beherrschungswahns der neuen Regierungen keiner mehr sein durfte, denn eine Koexistenz zwischen den Apachengruppen und den Mexikanern bzw. den »Gringos« schien ihnen undenkbar.

Das Buch verlangt der Leserin einiges an Aufmerksamkeit ab, denn der Erzählfokus wechselt munter zwischen Zeiten, Räumen und Figuren, aber insgesamt scheint eine treffende Interpretation der historischen Ereignisse in ihrer völkermordenden Brutalität geliefert zu werden; Enrigue gelingt es auch, erzählerisch die unterschiedlichen Stränge zu einem überzeugenden (damit natürlich nicht positiven) Ende zu bringen.

Auch dies Aufbewahrungs-, Dokumentations-, Erklärliteratur: wie in Thomes Gott der Barbaren wird der Einbruch der (bei Enrigue zumindest ursprünglich) europäischen Mächte in die Kulturen der neu entdeckten Welten gezeigt: bei Thome der Beginn einer Eroberung, bei Enrigue das Ende – ein Genozid, die Auslöschung einer Kultur.

Gelesen. Thome.

Stephan Thome: Gott der Barbaren. Berlin: Suhrkamp, 2018.

Kenntnis- und lehrreicher Roman über die Opiumkriege (Erster, Zweiter): Philipp Neukamp zieht nach der 1848 gescheiterten Revolution in Deutschland als (wenig überzeugter) Missionar nach China und begegnet dort neben vielen anderen missionarisch Tätigen unter anderem Vertretern der sich als christlich verstehenden Taiping-Rebellen, die in Nanking eine Gegenhauptstadt installierten. Andere wichtige Figuren, aus deren Sicht wir das Geschehen erzählt bekommen, sind Lord Elgin, oberster Vertreter der englischen Krone, und Zeng Guofan, der Oberbefehlshaber der Hunan-Armee. Geschildert wird sowohl der innerchinesische Konflikt zwischen den Rebellen und der Regierung in Peking als auch der imperialistische Krieg eine Koalition europäischer Mächte (England steht im Fokus, Frankreich und Russland werden als weitere Parteien genannt). Letztere schließen ihre Friedensverträge (die eher Kapitulationserklärungen sind) ausschließlich mit der offiziellen Regierung ab.

Kein Handelnder (und es sind mit unbedeutenden Ausnahmen ausschließlich Männer) handelt frei von Selbstzweifeln – diese verhindern aber weder die Kriegsführung an sich noch das massenhafte Massakrieren von Zivilisten (ganze Stadtbevölkerungen werden enthauptet). All dies wird als Arbeit einer Maschinerie dargestellt, die durch die Einzelnen scheinbar nicht aufzuhalten ist und doch durch genau ihre Entscheidungen am Laufen gehalten wird.

Beeindruckend geschildert wird vor allem die Überzeugung der kolonialen Akteure, aus vollem Recht überall in der Welt fragwürdige Heilslehren zu verbreiten, Rauschgifte ins Land zu schmuggeln, Handelsposten einzurichten und im Interesse dieser Zwecke alle lokalen Hindernisse niederzuwalzen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass der Widerstand gegen die fremden Herren ein berechtigter sein könnte.

Am Ende des Buches wird die Brücke geschlagen zu heutigen christlichen Bewegungen, die als »üble Kulte« von der chinesischen Regierung bekämpft werden und als in der Tradition der Taiping-Rebellen stehend verstanden werden können. Nicht benannt wird von Thome die Außenpolitik Chinas, die natürlich ähnlich von der Kolonialerfahrung geprägt ist.

Der Schwerpunkt liegt hier eher auf Historie als auf Literatur – gleichwohl ein sehr lesenswertes Buch.

Gelesen. Karila.

Juhani Karila: Der Fluch des Hechts. Übertragen von Maximilian Murmann. Erlangen: Homunculus, 2022.

Feiner Roman: Elina will – wie in jedem Jahr – einen Hecht angeln, doch dieser erweist sich plötzlich als stärker. Mit ihrem Scheitern scheint ihr Leben in Gefahr, denn ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. – Anderenorts wurde sie zuvor dabei beobachtet, wie sie in ihrem Garten eine Leiche zu verbrennen scheint. Die Kriminalpolizei schickt eine Ermittlerin. Doch in Ostlappland sind auch noch andere Kräfte am Wirken.

Sehr vergnüglich. – Lesen (oder erst einmal das Videointerview mit dem Autor gucken und dann lesen)!

Gelesen. Schmidt.

Jochen Schmidt: Zuckersand. München: btb, 2018.

Eigentlich nur gelesen, weil ich in einer Rezension über Schmidts Phlox stolperte, das offenbar die Geschichte fortführt.

Gelesen. Tokarczuk.

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Übertragen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Zürich: Kampa, 2019.

Schon eine großartige Unternehmung, das Leben Jakob Franks zu erzählen in seinen religiösen und sozialen Wirren – dies unternimmt Tokarczuk in einer überbordenden Fülle, die die gelungenen und unterhaltenden, die bitteren und die witzigen Passagen, derer das Buch nicht arm ist, leider ein wenig überdeckt: großartige Figurenschilderungen und -entwicklungen geschehen auf vergleichsweise wenigen Seiten, die für die fast 1200 gelesenen nicht vollends entschädigen. Schade, eigentlich.

Es bleibt also bei der Empfehlung: wenn Tokarczuk, dann Ur. (Menschen polnischer Zunge könnten die Frage beantworten, ob es möglicherweise an der Übersetzung liegt.)

Gelesen. Hettche.

Thomas Hettche: Die Liebe der Väter. München: btb, 2012.

Von der Mutter getrennt lebender Vater verbringt mit normalerweise bei der Mutter aufwachsender Tochter einen Silvesterurlaub mit Freunden auf Sylt. Hölzern und unangenehm väterbewegt die Auseinandersetzungen über die juristische Lage von Vätern in Konfliktfällen, besser in einigen Passagen die Unsicherheit zwischen Vater und Tochter, aber auch Naturbeschreibungen etc.

Irritiert ob der Intention dieses Buchs: ernst gemeinter Klagegesang (dann vollkommen unpassend die alles ändernde Ohrfeige, vor allem die Rechtfertigung derselben) oder distanzierende Zurschaustellung eines lamentierenden Gewalttätigen im unzuverlässigen Erzähler? – So wie so kein angenehmes Buch. Hettche ist nicht mein Autor.

Gelesen. Kracht.

Christian Kracht: Imperium. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012.

Literarische Adaption des Lebens August Engelhardts: ein lebensreformerisch Tätiger, der die Kokosnuss in ihrer universalen Nutzbarkeit ins Zentrum seines kolonialen Insellebens stellte. Man lernt daher unter anderem das nützliche Wort »kokovor«.

Gelesen. Uhlman.

Fred Uhlman: Mit neuem Namen. Übertragen von Felix Berner. Stuttgart, DVA, 1985.

Geschichte einer Freundschaft zwischen Hans Schwarz, einem jüdischen, und Konradin Graf von Hohenfels, einem christlichen Jugendlichen, die trotz vermeintlich starker Bindung zwischen den beiden mit dem Beginn der Naziherrschaft scheitert: steht der eine als plötzlich verfemt den neuen Machthabern kritisch gegenüber, heißt der andere sie als Erneuerung deutschen Wesens willkommen. – Dreißig Jahre später – Hans konnte, anders als seine Eltern, noch rechtzeitig in die USA flüchten – erfährt er, dass Konradin als Gegner des Naziregimes hingerichtet wurde.

Dieser Band enthält zwei Erzählungen aus je einer Perspektive: die erste, bei Diogenes auch unter dem Titel Der wiedergefundene Freund, im englischen Original 1971 erschienen, erzählt das Geschehen aus Hans’ Sicht, die zweite, im Original 1983 veröffentlicht, offenbart Konradins Gedanken, die dieser vor seinem Tod im Tagebuch festhielt.

Insgesamt sehr romantisch jünglingsfreundschaftsselig und hölderlinsatt mit Hang zur Feier vermeintlicher adliger Überlegenheit. Teil I mag noch angehen, Teil II ist vollkommen unnötig und beseitigt im literarischen Sinne jede Offenheit des ersten Textes.

Der Diogenes-Band ist Schullektüre.