Gelesen. Kurzeck.
Peter Kurzeck: Vorabend. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2014.
Motto des Titels: »Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!«
Weil Peter Kurzeck über dem Schreiben des folgenden Bandes verstarb, ist dies mit über 1000 Seiten das umfangreichste Buch der Reihe »Das alte Jahrhundert« geblieben; aufgrund seiner Länge habe ich auch seit den Weihnachtsferien daran (und an einigen hier ja auch dokumentierten kurzen Unterbrechungslektüren sowie an Fach- und Sachliteratur und Zeitungen) gelesen: es braucht so seine Zeit, Kurzeck auf seinem Weg zu folgen.
Dabei ist der Inhalt wieder recht kurz anzudeuten: weil Jürgen und Pascale nach Frankreich gehen wollen, um dort ein Restaurant zu eröffnen, besuchen Sybille und Peter mit Carina die beiden. Anlässlich dieses Abschiedstreffens erzählt Peter Bewahrenswertes.
Hierzu zählt für ihn die Geschichte der hessischen Kleinstadt Lollar, anhand derer er exemplarisch den Weg aus dem Nachkriegsdeutschland über ländlich-dörflich geprägtes Leben, Flüchtlingszuzug, Aufbau bescheidenen Wohlstands etc. in das in den achtziger Jahren vollentwickelte Städtchen zeigt. Zentrale Figur dabei ist der Schwager, der zeitlebens als »Buderussklave« im ortsansässigen Eisenwerk malocht, wobei seine Fähigkeiten weit über die bezahlte Tätigkeit hinausgehen. In der Schilderung seines Verhaltens – gerade auch im Gegensatz zu dem der seine Gutmütigkeit ausnutzenden Antagonisten – entdeckt uns Kurzeck das Bild eines bescheidenen, einfachen Mannes in seiner diesem selbst nicht bewussten Würde. Dabei ist das Bild des Schwagers keineswegs eindimensional: seine Teilhabe an der Verantwortung für das von Peter kritisch beobachtete Geschehen wird nicht ausgespart.
Dieses besteht in der Urbanisierung der Ländlichkeit, der Zerstörung der Natur im Interesse einer immer stärker durch die Nutzung des Autos geprägten zersiedelten, ungenießbaren Welt. In etlichen kleinen Beobachtungen wird der Verlust offenbar, mit dem die fröhlich alle neuen Möglichkeiten des Konsums ausnutzenden Bürger ihre schöne neue Welt bezahlen. Als Hauptinteressen werden dabei das Kaufen als billig angepriesener Waren als Selbstzweck, die Verortung in beruflichen Hierarchien sowie die Darstellung des Erreichten über Statussymbole jedweder Art offenbar; der Strukturwandel des Städtchens und der umliegenden Orte, insbesondere der anziehenden Gewerbegebiete mit bislang unerreicht großen Einkaufs- und Baumärkten markiert.
Das Ganze ist aber keineswegs konsumkritische Kampfschrift, sondern wir über weite Strecken in fast neutral anmutenden Gestus dargestellt; in der Fülle, der Häufung, der Massivität der Veränderungen allerdings gerät das Erzählte zu einer mahnenden Litanei des Verlorenen, und die Freundlichkeit des Chronisten kann seine beharrliche Wirtschaftswunderskepsis nicht verbergen.
Was hier schlicht klingt, ist bei aller Einfachheit des Erzählten komplex angelegt; dass alles mit allem zusammenhängt, zeigt sich zum Beispiel in der Schilderung, was die Umgestaltung der Welt für Schulkinder bedeutet:
Eine solche Schule mit »Behördengenehmigung mit Behördenasbest« war auch meine Grundschule, wenn auch wieder in ganz anderem Stadtplanungskontext. Sie wurde dann noch vor meinem Abitur abgerissen.
Lest Kurzeck.
(Gibt’s wohlfeil als Fischer Taschenbuch oder gediegen beim verdienstvollen Verlag Stroemfeld/Roter Stern. Von einem Tag auf den anderen in der nächstgelegenen Buchhandlung.)
Motto des Titels: »Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!«
Weil Peter Kurzeck über dem Schreiben des folgenden Bandes verstarb, ist dies mit über 1000 Seiten das umfangreichste Buch der Reihe »Das alte Jahrhundert« geblieben; aufgrund seiner Länge habe ich auch seit den Weihnachtsferien daran (und an einigen hier ja auch dokumentierten kurzen Unterbrechungslektüren sowie an Fach- und Sachliteratur und Zeitungen) gelesen: es braucht so seine Zeit, Kurzeck auf seinem Weg zu folgen.
Dabei ist der Inhalt wieder recht kurz anzudeuten: weil Jürgen und Pascale nach Frankreich gehen wollen, um dort ein Restaurant zu eröffnen, besuchen Sybille und Peter mit Carina die beiden. Anlässlich dieses Abschiedstreffens erzählt Peter Bewahrenswertes.
Hierzu zählt für ihn die Geschichte der hessischen Kleinstadt Lollar, anhand derer er exemplarisch den Weg aus dem Nachkriegsdeutschland über ländlich-dörflich geprägtes Leben, Flüchtlingszuzug, Aufbau bescheidenen Wohlstands etc. in das in den achtziger Jahren vollentwickelte Städtchen zeigt. Zentrale Figur dabei ist der Schwager, der zeitlebens als »Buderussklave« im ortsansässigen Eisenwerk malocht, wobei seine Fähigkeiten weit über die bezahlte Tätigkeit hinausgehen. In der Schilderung seines Verhaltens – gerade auch im Gegensatz zu dem der seine Gutmütigkeit ausnutzenden Antagonisten – entdeckt uns Kurzeck das Bild eines bescheidenen, einfachen Mannes in seiner diesem selbst nicht bewussten Würde. Dabei ist das Bild des Schwagers keineswegs eindimensional: seine Teilhabe an der Verantwortung für das von Peter kritisch beobachtete Geschehen wird nicht ausgespart.
Dieses besteht in der Urbanisierung der Ländlichkeit, der Zerstörung der Natur im Interesse einer immer stärker durch die Nutzung des Autos geprägten zersiedelten, ungenießbaren Welt. In etlichen kleinen Beobachtungen wird der Verlust offenbar, mit dem die fröhlich alle neuen Möglichkeiten des Konsums ausnutzenden Bürger ihre schöne neue Welt bezahlen. Als Hauptinteressen werden dabei das Kaufen als billig angepriesener Waren als Selbstzweck, die Verortung in beruflichen Hierarchien sowie die Darstellung des Erreichten über Statussymbole jedweder Art offenbar; der Strukturwandel des Städtchens und der umliegenden Orte, insbesondere der anziehenden Gewerbegebiete mit bislang unerreicht großen Einkaufs- und Baumärkten markiert.
Das Ganze ist aber keineswegs konsumkritische Kampfschrift, sondern wir über weite Strecken in fast neutral anmutenden Gestus dargestellt; in der Fülle, der Häufung, der Massivität der Veränderungen allerdings gerät das Erzählte zu einer mahnenden Litanei des Verlorenen, und die Freundlichkeit des Chronisten kann seine beharrliche Wirtschaftswunderskepsis nicht verbergen.
Was hier schlicht klingt, ist bei aller Einfachheit des Erzählten komplex angelegt; dass alles mit allem zusammenhängt, zeigt sich zum Beispiel in der Schilderung, was die Umgestaltung der Welt für Schulkinder bedeutet:
Lollar oder Mainzlar oder ein Straßendorf in der Wetterau. Dorfstraße mit Überweg und Fußgängerampeln. Und die Schulkinder können nach der Schule nichtmal mehr zusammen heimgehen. Auch wenn sie den gleichen Weg haben. Muß jedes Kind von der anderen Straßenseite gleich vor dem Schulhof über die Straße. Gleich bei der Ampel. Gehen dann in die gleiche Richtung, aber jedes Kind schon auf seiner Seite. Und können sich über die Straße noch manchmal was zurufen. Hin und her. Wörter. Mit Kinderstimmen. Das ist scheints erlaubt. Zumindest nicht direkt verboten. Aber immer erst noch ein paar haushohe Lastwagen vorbeilassen. Die Lastwagen und den Fahrtwind.
Und dann muß jedes Kind dreimal rufen, bevor ein anderes Kind (das Gegenkind) mit Glück vielleicht noch die Hälfte versteht. Und meistens die falsche Hälfte. Heimwege. Heim zum Fernsehen. Verkehrserziehung. Zwecks Fortschritt die Dorfschulen abschaffen. Wenigstens nach der Grundschule. Gesamtschulen. Mittelpunktschulen. Modern. Zeitgemäß. Sehen aus wie Firmenzentralen, Fabriken, Verwaltungszentren. Wie ein Einkaufszentrum in einem Gewerbegebiet. Bloß ohne Firmenlogo und weniger Parkplätze. Manchmal auch wie eine Klinik oder sonstige Anstalten öffentlichen Rechts. Regelvollzug. Die Kinder mit Schulbussen morgens und nachmittags. Pendler. Noch klein und schon Pendler. Bunte Ranzen und bunte Mützen und Jacken und kleine graue Gesichter. Immer in Eile und nie bei sich selbst. Damit sie das dann schon können, wenn sie ins Erwerbsleben müssen. Und weil den Erwachsenen ja auch nix geschenkt wird. Gesamtmittelpunktzentrum. Schulen für mehrere tausend Schüler. Fünf oder zehn oder noch mehr solche Schulen in jeder Kreisstadt und in jedem Landkreis. Neu gebaut. In der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre. Mit Asbest. Mit Asbest? Mit Behördengenehmigung mit Behördenasbest. Christ- und sozialdemokratisch. Je nach Bundesland und Legislaturperiode. Obwohl man damals schon seit mindestens dreißig oder vierzig Jahren weiß, obwohl schon die Nazis wußten, daß Asbest Krebs erregt. Aber ist so praktisch. Und kann man schnell bauen und gut Geschäfte damit. Acht oder zehn oder zwölf Jahre geht ein Kind von Amts wegen in so eine Schule. Und trotzdem, sagte ich, kommt deshalb niemand vor Gericht. Sie sind Architekten, Baudezernenten, Oberbürgermeister, Abgeordnete, Landräte und Minister. Sitzen in Aufsichtsräten und werden Ehrenbürger mit Bundesverdienstkreuz. Und keiner stellt ihnen Fragen. Keiner fragt sie, wie so etwas sein kann, obwohl es nicht sein darf. Und wenn man sie fragt, sie antworten nicht. Höchstens lassen sie antworten. Also fragt man erst gar nicht, sagte ich. (Ebd., 508 f.)
Und dann muß jedes Kind dreimal rufen, bevor ein anderes Kind (das Gegenkind) mit Glück vielleicht noch die Hälfte versteht. Und meistens die falsche Hälfte. Heimwege. Heim zum Fernsehen. Verkehrserziehung. Zwecks Fortschritt die Dorfschulen abschaffen. Wenigstens nach der Grundschule. Gesamtschulen. Mittelpunktschulen. Modern. Zeitgemäß. Sehen aus wie Firmenzentralen, Fabriken, Verwaltungszentren. Wie ein Einkaufszentrum in einem Gewerbegebiet. Bloß ohne Firmenlogo und weniger Parkplätze. Manchmal auch wie eine Klinik oder sonstige Anstalten öffentlichen Rechts. Regelvollzug. Die Kinder mit Schulbussen morgens und nachmittags. Pendler. Noch klein und schon Pendler. Bunte Ranzen und bunte Mützen und Jacken und kleine graue Gesichter. Immer in Eile und nie bei sich selbst. Damit sie das dann schon können, wenn sie ins Erwerbsleben müssen. Und weil den Erwachsenen ja auch nix geschenkt wird. Gesamtmittelpunktzentrum. Schulen für mehrere tausend Schüler. Fünf oder zehn oder noch mehr solche Schulen in jeder Kreisstadt und in jedem Landkreis. Neu gebaut. In der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre. Mit Asbest. Mit Asbest? Mit Behördengenehmigung mit Behördenasbest. Christ- und sozialdemokratisch. Je nach Bundesland und Legislaturperiode. Obwohl man damals schon seit mindestens dreißig oder vierzig Jahren weiß, obwohl schon die Nazis wußten, daß Asbest Krebs erregt. Aber ist so praktisch. Und kann man schnell bauen und gut Geschäfte damit. Acht oder zehn oder zwölf Jahre geht ein Kind von Amts wegen in so eine Schule. Und trotzdem, sagte ich, kommt deshalb niemand vor Gericht. Sie sind Architekten, Baudezernenten, Oberbürgermeister, Abgeordnete, Landräte und Minister. Sitzen in Aufsichtsräten und werden Ehrenbürger mit Bundesverdienstkreuz. Und keiner stellt ihnen Fragen. Keiner fragt sie, wie so etwas sein kann, obwohl es nicht sein darf. Und wenn man sie fragt, sie antworten nicht. Höchstens lassen sie antworten. Also fragt man erst gar nicht, sagte ich. (Ebd., 508 f.)
Eine solche Schule mit »Behördengenehmigung mit Behördenasbest« war auch meine Grundschule, wenn auch wieder in ganz anderem Stadtplanungskontext. Sie wurde dann noch vor meinem Abitur abgerissen.
Lest Kurzeck.
(Gibt’s wohlfeil als Fischer Taschenbuch oder gediegen beim verdienstvollen Verlag Stroemfeld/Roter Stern. Von einem Tag auf den anderen in der nächstgelegenen Buchhandlung.)
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