Skip to content

Gelesen. Kurzeck.

Peter Kurzeck: Übers Eis. Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern: 1997.

Wenn man erst einmal ins Lesen autobiographischer Erzählungen hineingerät, wird es schwierig, je wieder herauszukommen: Gustafssons »Risse in der Mauer« war schon eine Andeutung, mit Proust und Knausgård befinde ich mich mittendrin, und nur weil die Buchmesse in Frankfurt stattfindet und ich deshalb etwas Passendes zum Lesen mitnehmen wollte, der oben erwähnte (hauptsächlich in Frankfurt situierte) Band noch zuhause herumlag, weil ich ihn zwar begonnen hatte, wegen Nichtzurrechtenzeitzurhandgenommen und Sovieleanderebücherzulesen aber über die ersten drei, vier Seiten nicht hinausgekommen war, eröffnet sich mir nun ein weiteres Leseprojekt.

Dabei gilt nach dem, was ein guter Freund mir über andere Bücher Kurzecks (zumindest dieser ursprünglich auf zwölf Bände angelegten, aber leider bei fünfen abgebrochenen Reihe »Das alte Jahrhundert«) berichtete, vieles, was ich hier für diesen Roman sage, auch für andere:

Aus seinem Leben erzählt Peter (der Nachname wird zwar einige Male für Dritte buchstabiert, allerdings – wenn ich nichts übersehen habe – anders als der Vorname nie genannt), der sich im Jahre 1984 unversehens von seiner Freundin Sibylle getrennt erkennen und daher aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muss. Er findet eine behelfsmäßige Bleibe, sorgt etwa hälftig für seine Tochter Carina, versucht seinen Lebensunterhalt durch Schreiben zu verdienen, muss aber auf staatliche Unterstützung zurückgreifen. Verwoben mit der Darstellung des aktuellen Lebens werden Fragmente von Erinnerungen an frühere Geschehnisse und geradezu dokumentarische Aufnahmen alltäglichster Sachverhalte, Orte, Konstellationen. So weit, so banal – wie letztlich bei jedem autobiographischen Erzählen.

Das Besondere geschieht beim Einlassen auf den Strom.

Dann hat man sich zu ergeben dem Rhythmus eines Stakkatos von Eindrücken, zu schnell, als dass alle Sätze beendet werden könnten, sodass die letzten Wörter zuweilen. Gleichwohl evoziert Kurzeck durch die Anhäufung simpler Benennungen allein schon mit diesen Zeichen verbundene Assoziationen –

Ein Sommertag ist lang wie ein Jahr. Die Ampeln von rot auf grün. Musik. Zigaretten. Die Straße fängt an zu fahren. Alle Straßen fangen zu fahren an. Zubringer. Kreuzungen. Ausfallstraßen. Die Autobahn. Autobahnauffahrten, Autobahnabfahrten. Das Rollfeld, die Startbahn, der Luftraum, die Einflugschneisen. Ein Flugzeug schräg in die Höhe. Alle paar Minuten ein Flugzeug schräg in die Höhe. Ein anderes Flugzeug und setzt zur Landung an. Signale, Signaltürme, Lichtzeichen. Immer wieder ein Flugzeug, immer noch eins und alle setzen zur Landung an. RheinMain-Flughafen. Frankfurt Airport. Beton, der Stadtwald und Himmel, ein stiller Himmel, der allen und keinem gehört. Das Südkreuz, das Westkreuz, das Frankfurter Kreuz. Eisenbahnlinien, S-Bahnen, Bahnhöfe, Vororte, Dörfer, Vororte und die Vororte von den Vororten. Schrebergärten, Kasernen, Pferde, die Rennbahn, Sportplätze, Werkstätten, Tankstellen, Einkaufszentren, Friedhöfe, Lagerhallen, Fabriken, Industriegelände, ein Kornfeld, Gewerbegebiete, Rechtecke, Würfel, Bauklötze, Grundrisse, Häuser, Neubausiedlungen, Bauland, Bauerwartungsland, Bauerschließungsgebiete, Bauplätze, Baustellen, Baustellen. Sommer, der Sommer, Sommerzeit. Gegenwart. Im Sommer ein Nachmittag. Erst Juli und dann August. Kornfelder, Wiesen, der Taunus. Von Bad Nauheim, von Ockstadt, von Friedberg bis nach Bad Homburg, Oberursel, Bad Vilbel. Von Bergen nach Kriftel, nach Hofheim, nach Kelkheim, nach Hochheim. Am Südrand, den Taunus entlang. Bis nach Wiesbaden. Den Taunus, den Main entlang. Überall Obstbäume. Die Kirschen schon abgeerntet? Die Pflaumen, die Mirabellen, die Äpfel und Birnen. Jede Einzelheit. Alles ganz deutlich. Die Früchte an jedem Baum. Und werden jetzt reif. Bei Hochheim der Wein auf den Hängen. Heiß ist es. Feldwege. Die Rheinebene. In der Hitze flimmert das Licht. An Höchst, an den Farbwerken auch vorbei (finster die Farbwerke: brüten Albträume aus), und in weiten Bogen der Main. Schiffe. Die Strömung. [Ebd., 149]

– die für die Sicherung und Reaktivierung vergangener Eindrücke stehen können, ohne (wie so viele Erinnerungsbücher) in der Nennung von Markennamen sich zu erschöpfen und zu vermeinen, man habe damit eine Generation beschrieben.

Mit wenigen Worten skizziert er simultan Szenerien, Dialoge, Typen und ganze Lebensläufe:

Die Elbe aufs Meer zu. Tag und Nacht Schiffe vorbei. Ozeandampfer, Frachter, Öltanker, Schlepper, Gespensterschiffe, Segeljachten und Fischkutter. Ein Feuerwehrschiff. Der Zoll. Die Wasserschutzpolizei. Jedes Schiff grüßt. Blau und weiß die Villa. Mit blanken Fenstern. Vierzig Zimmer. Vierundvierzig. Beim nächstenmal Nachzählen achtundvierzig. Die Fenster jeden Tag frischgeputzt. Nur unser Hausmeister kennt diese feine ältere Dame, die sich in allem und jedem ganz und gar auf sein Wort verläßt. Ehrenwort! Sie lieber nicht stören! Aber im Zweifelsfall ist sie für ihn jederzeit telefonisch erreichbar. Aber ja! Jederzeit! So eine feine ältere Dame. Geld spielt bei der keine Rolle (solang die Miete pünktlich bezahlt wird). Ihr Verlobter im ersten Weltkrieg vor Skagerrak. Kapitänleutnant. Heldentod. Sie hat als Frau, als Dame schriftlich ihren Doktor in Filesofie. Und mit Familienwappen. Muß man sich vorstellen! Eine Trauerweide, einen Kiesweg, ein hohes Tor. Die Möwen auch. Die Schiffe. Die Elbe. [Ebd., 127]

Auch wenn die Melancholie als schwerer Mut über den Erinnerungen und Gegenwärtigkeiten liegt, gibt es auch immer wieder Momente, in denen der Protagonist sich selbst in seiner Tragikomik sieht, und man mag ihn sich gickernd an seiner elektrischen Schreibmaschine vorstellen – etwa, wenn er ab Seite 71 über sechs Seiten schildert, wie er mehrfach und vielfältig an der Zubereitung eines Espressos scheitert, weil er einfach zu sehr in Gedanken ist, oder wie die Auswahl eines Stücks Seife für nicht mal eine Mark ihn für zwei Stunden (und wiederum über einige Seiten) fesselt und so fort.

Was mich aus Gründen allerdings am stärksten berührt, ist die unendliche Zärtlichkeit, mit der der Protagonist wieder und wieder in kleinen Episoden, blitzlichtartigen Einsprengseln oder auch längeren Passagen den Umgang mit seiner kleinen Tochter beschreibt, die für ihn bei aller familienunfreundlichen Unfähigkeit, ein anderes Leben als das des Künstlers zu führen, das Liebste zu sein scheint.

Hierfür keine Beispiele. Jetzt müsst Ihr schon selbst lesen.

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Gravatar, Monster ID, Monster ID, Monster ID, Monster ID, Monster ID Autoren-Bilder werden unterstützt.
Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
BBCode-Formatierung erlaubt
Formular-Optionen