Gelesen (und lesend). Proust. I.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 1: Auf dem Weg zu Swann. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2013.
Die (momentan noch nicht abgeschlossene) Neuübersetzung der Suche war für mich der Anlass, mit der Lektüre dieses Ausnahmewerks zu beginnen. Die ausgesprochen schöne Edition in der Reclam Bibliothek – leinengebunden, fadengeheftet, Schutzumschlag von Forssmann und Feyll – tat ein Weiteres dazu; dass der Verlag ab dem zweiten Band auch erkannt hat, dass eine Ausgabe mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat nicht nur ein, sondern zwei Lesebändchen braucht, ist nicht selbstverständlich.
Der Titel ist jedem literarisch Interessierten bekannt, und für eine Vorstellung vom Inhalt (da stippt jemand eine Madeleine in einen Lindenblütenaufguss und erinnert sich aufgrund des gustatorischen Reizes an frühere Lebensphasen) reicht es meist auch noch. Bis diese Szene jedoch geschildert wird, sind wir auf Seite 70 angelangt – und ein Großteil potentieller Leser_innen vermutlich längst abgesprungen, wie es auch mir bei früheren Lektüreversuchen erging.
Dieses Mal lief’s besser, was natürlich auch damit zu tun hatte, dass in den Weihnachtsferien ein wenig mehr Muße war, um sich dem Konzept des Werks zu ergeben, was hinzunehmen (und über längere Sicht gar zu goutieren) beinhaltet, dass der Erzähler über Seiten hinweg in langen, wieder und wieder durch Einschübe und Präzisierungen unterbrochenen und daher nur durch konzentriertes Lesen erfassbaren Sentenzen eine einzige Gefühlsregung analysiert und ausdeutet, ohne dass nun eine Geschichte herkömmlicher Art wesentlich vorangetrieben würde. Fern ist dieser Roman also dem, was man als »Spannung« angepriesen zu bekommen gewohnt ist, weil es sich ganz dem mehr oder minder behaglichen Schwelgen in Erinnerung hingibt, dabei jede noch so kleine emotionale Regung, jedes winzige Geschehnis als wichtig und mitteilenswert begreift. (Spätestens an dieser Stelle wird erkennbar, warum die Kritiker Knausgårds unglücklich betitelte Min kamp-Reihe mit Prousts Roman vergleichen.)
Die Suche besteht insgesamt aus sieben Bänden (insgesamt über 5000 Seiten), von denen ich nun den ersten im Umfang von gut 580 Seiten (ohne Anmerkungen!) gelesen habe. Er ist wiederum aufgeteilt in drei Teile – »Combray«, »Eine Liebe von Swann«, »Ländliche Namen: Der Name« –, die ihrerseits von Umfang und Dichte her mindestens längere Erzählungen ausmachen, wenn nicht gar als Roman gelten könnten. Im ersten Teil wird der ländliche Ort Combray (samt damit verbundenen Erinnerungen) vorgestellt, an dem der Erzähler in Kindertagen mit seinen Eltern, an sich in Paris wohnend, die freie Zeit verbrachte, im zweiten Teil die verhängnisvolle Zuneigung Swanns zu einer Dame fragwürdigen Rufs geschildert, im dritten die Liebe des Erzählers zu Gilberte, der Tochter Swanns, beschrieben. Alle wichtigen Informationen zu den genannten Geschehenszentren könnten problemlos auf wenigen Seiten mitgeteilt werden; es ist also rasch offensichtlich, dass das Erzählen Prousts einem anderen Antrieb folgt.
In »Combray« beispielsweise werden Spaziergänge mit der Familie, Lektüreeindrücke, persönliche Vorlieben (wie etwa für den Weißdorn), Beziehungen der Figuren untereinander – insbesondere die des Jungen zu seiner Mutter –, aber auch gesellschaftliche Ereignisse, zum Beispiel Besuche und Gegenbesuche, Gründe für und gegen dieselben sowie immer wieder ausführlichst die mal schwärmerischen, mal sentimentalen, mal furchtsamen, mal zuversichtlichen Reflexionen des Erzählers geschildert. Eine leise Ironie ist seinem Ton öfter eigen, wenn es um die mehr oder minder anerkannten Berühmtheiten des provinziellen Lebens mit ihren Eigenheiten geht, die Eifersüchteleien und Sticheleien, das Sich-aus-dem-Weg-Gehen wie das bewusste Suchen vermeintlich wichtiger Bekanntschaften und so fort. Die Sehnsucht des (zum Beispiel zu viel, unglücklich oder unerwidert) Liebenden wird in verschiedenen Variationen zart, mit der Überempfindsamkeit des Liebesleidenden vielfältig und in allen Facetten erfasst.
Der zweite Band liegt schon bereit.
Weiter zu Band II.
Die (momentan noch nicht abgeschlossene) Neuübersetzung der Suche war für mich der Anlass, mit der Lektüre dieses Ausnahmewerks zu beginnen. Die ausgesprochen schöne Edition in der Reclam Bibliothek – leinengebunden, fadengeheftet, Schutzumschlag von Forssmann und Feyll – tat ein Weiteres dazu; dass der Verlag ab dem zweiten Band auch erkannt hat, dass eine Ausgabe mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat nicht nur ein, sondern zwei Lesebändchen braucht, ist nicht selbstverständlich.
Der Titel ist jedem literarisch Interessierten bekannt, und für eine Vorstellung vom Inhalt (da stippt jemand eine Madeleine in einen Lindenblütenaufguss und erinnert sich aufgrund des gustatorischen Reizes an frühere Lebensphasen) reicht es meist auch noch. Bis diese Szene jedoch geschildert wird, sind wir auf Seite 70 angelangt – und ein Großteil potentieller Leser_innen vermutlich längst abgesprungen, wie es auch mir bei früheren Lektüreversuchen erging.
Dieses Mal lief’s besser, was natürlich auch damit zu tun hatte, dass in den Weihnachtsferien ein wenig mehr Muße war, um sich dem Konzept des Werks zu ergeben, was hinzunehmen (und über längere Sicht gar zu goutieren) beinhaltet, dass der Erzähler über Seiten hinweg in langen, wieder und wieder durch Einschübe und Präzisierungen unterbrochenen und daher nur durch konzentriertes Lesen erfassbaren Sentenzen eine einzige Gefühlsregung analysiert und ausdeutet, ohne dass nun eine Geschichte herkömmlicher Art wesentlich vorangetrieben würde. Fern ist dieser Roman also dem, was man als »Spannung« angepriesen zu bekommen gewohnt ist, weil es sich ganz dem mehr oder minder behaglichen Schwelgen in Erinnerung hingibt, dabei jede noch so kleine emotionale Regung, jedes winzige Geschehnis als wichtig und mitteilenswert begreift. (Spätestens an dieser Stelle wird erkennbar, warum die Kritiker Knausgårds unglücklich betitelte Min kamp-Reihe mit Prousts Roman vergleichen.)
Die Suche besteht insgesamt aus sieben Bänden (insgesamt über 5000 Seiten), von denen ich nun den ersten im Umfang von gut 580 Seiten (ohne Anmerkungen!) gelesen habe. Er ist wiederum aufgeteilt in drei Teile – »Combray«, »Eine Liebe von Swann«, »Ländliche Namen: Der Name« –, die ihrerseits von Umfang und Dichte her mindestens längere Erzählungen ausmachen, wenn nicht gar als Roman gelten könnten. Im ersten Teil wird der ländliche Ort Combray (samt damit verbundenen Erinnerungen) vorgestellt, an dem der Erzähler in Kindertagen mit seinen Eltern, an sich in Paris wohnend, die freie Zeit verbrachte, im zweiten Teil die verhängnisvolle Zuneigung Swanns zu einer Dame fragwürdigen Rufs geschildert, im dritten die Liebe des Erzählers zu Gilberte, der Tochter Swanns, beschrieben. Alle wichtigen Informationen zu den genannten Geschehenszentren könnten problemlos auf wenigen Seiten mitgeteilt werden; es ist also rasch offensichtlich, dass das Erzählen Prousts einem anderen Antrieb folgt.
In »Combray« beispielsweise werden Spaziergänge mit der Familie, Lektüreeindrücke, persönliche Vorlieben (wie etwa für den Weißdorn), Beziehungen der Figuren untereinander – insbesondere die des Jungen zu seiner Mutter –, aber auch gesellschaftliche Ereignisse, zum Beispiel Besuche und Gegenbesuche, Gründe für und gegen dieselben sowie immer wieder ausführlichst die mal schwärmerischen, mal sentimentalen, mal furchtsamen, mal zuversichtlichen Reflexionen des Erzählers geschildert. Eine leise Ironie ist seinem Ton öfter eigen, wenn es um die mehr oder minder anerkannten Berühmtheiten des provinziellen Lebens mit ihren Eigenheiten geht, die Eifersüchteleien und Sticheleien, das Sich-aus-dem-Weg-Gehen wie das bewusste Suchen vermeintlich wichtiger Bekanntschaften und so fort. Die Sehnsucht des (zum Beispiel zu viel, unglücklich oder unerwidert) Liebenden wird in verschiedenen Variationen zart, mit der Überempfindsamkeit des Liebesleidenden vielfältig und in allen Facetten erfasst.
Der zweite Band liegt schon bereit.
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Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 2: Im Schatten junger Mädchenblüte. Übertragen von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2014. Für den zweiten Band brauchte ich ein wenig länger als für den ersten (bei einem längeren Leseproje
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