Gelesen. Hessel.
Stéphane Hessel: Empört Euch! Berlin: Ullstein, 2011.
Und … wie fandest Du es? – Knifflige Frage. Wie alle professionellen Leser habe ich natürlich meist etwas zu mäkeln …
Ich hatte hier und dort im Netz schon enthusiastisches Lob gehört und auch feine Stellen zitiert gelesen. Jetzt, da ich die Schrift komplett gelesen habe, sehe ich, dass die feinen Stellen schon das Wesentliche waren und ich nichts Wichtiges verpasst hätte, wäre der Mitnahmeartikel beim Buchhändler meines Vertrauens nicht zufällig auf dem Stapel der zu erwerbenden Bücher gelandet …
Auf den 15 Seiten seiner Streitschrift führt Hessel seinen Hang zur konstruktiven Empörung über (zunächst einmal: vermeintliche) Missstände auf seine Lebensgeschichte zurück und begründet die Empörung über gesellschaftspolitische Veränderungen der letzten Jahre mit der Verletzung der alten Ideale der Résistance. (7)
Das ist alles ganz gut & schön, und in Frankreich sicher auch überzeugender als hierzulande, doch darf man schon fragen, ob das, was vor über 60 Jahren richtig gewesen ist, heute zwangsläufig auch richtig sein muss. Es kann (aus ganz unterschiedlichen Gründen) wohl so sein – ein gültiges Argument ist das jedoch keinesfalls. Beispielsweise ist es natürlich in vielen (keineswegs in allen!) Fällen richtig, das Gemeinwohl über das Eigenwohl zu stellen (8) – aber doch nicht, weil die Résistance dies gefordert hat. Eine schlüssige Argumentation fehlt mir nicht nur hier.
Natürlich hat Hessel Recht, wenn er sich über Sozialkürzungen (im Angesicht von Milliardengewinnen anderswo) echauffiert. Natürlich ist die Ausrichtung unseres Lebens am Geldwert falsch. (9) Natürlich ist die Macht globalen Finanzbranche eine Gefahr für die Demokratie einerseits (10) und damit für jeden einzelnen von uns andererseits – aber sagt er da etwas Neues?
Das nächste Kapitel »Zwei Auffassungen von Geschichte« befasst sich gar nicht mit dem eigentlichen Thema des Aufsatzes, sondern ist (wie schon viele einzelne Absätze vorher) wieder nur eine Darstellung seines Lebenswegs und seiner Denkgeschichte, in der insbesondere Hegel als sinngebend für die Menschheitsgeschichte und Wegbereiter der Demokratie begriffen wird. Hier darf man nicht nur darauf hinweisen, dass beispielsweise Karl Popper Hegel begründet ganz anders verstanden hat, sondern auch darauf, dass die intellektuellen Erfahrungen des Autors im Aufsatzkontext nichts zur Sache tun. Ein mutiger Lektor hätte Hessel darauf hingewiesen.
Die Seiten 13–15 enthalten den zentralen Appell zum Engagement, zur Einmischung, zum Mittun, zum sich gerade nicht elegant Enthalten und so fort. Kaum ein Satz, den ich nicht unterschreiben könnte.
Ob nun gerade die Palästina-Frage das wichtigste nichteuropäische Problem ist, mit dem man sich in einem so kurzen Aufsatz beschäftigen muss (16f.), oder ob es nicht auch wichtigere anderenorts gibt, kann ich kaum beurteilen. Ich weiß nur, dass ich anlässlich jeder guten Zeitungsreportage über soziale und politische Ungerechtigkeiten in beliebigen Staaten der Welt Scham fühle über unsere Unwissenheit und unser Nichtwissenwollen, über unsere Untätigkeit und unser Nichtsändernwollen.
Den gewaltlosen Aufstand gegen das Unrecht im Land und in der Welt zu wagen ruft Hessel abschließend auf. Nun, auch das ist nicht neu. Und ganz besonders alt ist sein Blick auf die »Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur [und] den allgemeinen Gedächtnisschwund […]« – das modernste Massenkommunikationsmittel, das Internet, birgt mehr Chancen als jedes andere zuvor, Empörung und Aufstand in Hessels Sinne zu befördern, zur Aufklärung im Kantschen Sinne beizutragen. Dies nicht zu erkennen lässt an der analytischen Kompetenz des Autors mehr als nur zweifeln.
Mithin: ein argumentativ sehr schwacher Text, der in Frankreich vermutlich aus historischen Gründen (Résistanceveteran, hoher Diplomat) sein Echo fand, dessen Inhalt allenfalls erstaunlich ist, weil sein Verfasser kein jugendlicher Heißsporn, sondern ein durchaus verdienter alter Mann mit achtenswerter Lebensgeschichte ist.
Mir reicht das – bei allen inhaltlichen Überschneidungen mit der eigenen Auffassung – nicht.
Und … wie fandest Du es? – Knifflige Frage. Wie alle professionellen Leser habe ich natürlich meist etwas zu mäkeln …
Ich hatte hier und dort im Netz schon enthusiastisches Lob gehört und auch feine Stellen zitiert gelesen. Jetzt, da ich die Schrift komplett gelesen habe, sehe ich, dass die feinen Stellen schon das Wesentliche waren und ich nichts Wichtiges verpasst hätte, wäre der Mitnahmeartikel beim Buchhändler meines Vertrauens nicht zufällig auf dem Stapel der zu erwerbenden Bücher gelandet …
Auf den 15 Seiten seiner Streitschrift führt Hessel seinen Hang zur konstruktiven Empörung über (zunächst einmal: vermeintliche) Missstände auf seine Lebensgeschichte zurück und begründet die Empörung über gesellschaftspolitische Veränderungen der letzten Jahre mit der Verletzung der alten Ideale der Résistance. (7)
Das ist alles ganz gut & schön, und in Frankreich sicher auch überzeugender als hierzulande, doch darf man schon fragen, ob das, was vor über 60 Jahren richtig gewesen ist, heute zwangsläufig auch richtig sein muss. Es kann (aus ganz unterschiedlichen Gründen) wohl so sein – ein gültiges Argument ist das jedoch keinesfalls. Beispielsweise ist es natürlich in vielen (keineswegs in allen!) Fällen richtig, das Gemeinwohl über das Eigenwohl zu stellen (8) – aber doch nicht, weil die Résistance dies gefordert hat. Eine schlüssige Argumentation fehlt mir nicht nur hier.
Natürlich hat Hessel Recht, wenn er sich über Sozialkürzungen (im Angesicht von Milliardengewinnen anderswo) echauffiert. Natürlich ist die Ausrichtung unseres Lebens am Geldwert falsch. (9) Natürlich ist die Macht globalen Finanzbranche eine Gefahr für die Demokratie einerseits (10) und damit für jeden einzelnen von uns andererseits – aber sagt er da etwas Neues?
Das nächste Kapitel »Zwei Auffassungen von Geschichte« befasst sich gar nicht mit dem eigentlichen Thema des Aufsatzes, sondern ist (wie schon viele einzelne Absätze vorher) wieder nur eine Darstellung seines Lebenswegs und seiner Denkgeschichte, in der insbesondere Hegel als sinngebend für die Menschheitsgeschichte und Wegbereiter der Demokratie begriffen wird. Hier darf man nicht nur darauf hinweisen, dass beispielsweise Karl Popper Hegel begründet ganz anders verstanden hat, sondern auch darauf, dass die intellektuellen Erfahrungen des Autors im Aufsatzkontext nichts zur Sache tun. Ein mutiger Lektor hätte Hessel darauf hingewiesen.
Die Seiten 13–15 enthalten den zentralen Appell zum Engagement, zur Einmischung, zum Mittun, zum sich gerade nicht elegant Enthalten und so fort. Kaum ein Satz, den ich nicht unterschreiben könnte.
Ob nun gerade die Palästina-Frage das wichtigste nichteuropäische Problem ist, mit dem man sich in einem so kurzen Aufsatz beschäftigen muss (16f.), oder ob es nicht auch wichtigere anderenorts gibt, kann ich kaum beurteilen. Ich weiß nur, dass ich anlässlich jeder guten Zeitungsreportage über soziale und politische Ungerechtigkeiten in beliebigen Staaten der Welt Scham fühle über unsere Unwissenheit und unser Nichtwissenwollen, über unsere Untätigkeit und unser Nichtsändernwollen.
Den gewaltlosen Aufstand gegen das Unrecht im Land und in der Welt zu wagen ruft Hessel abschließend auf. Nun, auch das ist nicht neu. Und ganz besonders alt ist sein Blick auf die »Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur [und] den allgemeinen Gedächtnisschwund […]« – das modernste Massenkommunikationsmittel, das Internet, birgt mehr Chancen als jedes andere zuvor, Empörung und Aufstand in Hessels Sinne zu befördern, zur Aufklärung im Kantschen Sinne beizutragen. Dies nicht zu erkennen lässt an der analytischen Kompetenz des Autors mehr als nur zweifeln.
Mithin: ein argumentativ sehr schwacher Text, der in Frankreich vermutlich aus historischen Gründen (Résistanceveteran, hoher Diplomat) sein Echo fand, dessen Inhalt allenfalls erstaunlich ist, weil sein Verfasser kein jugendlicher Heißsporn, sondern ein durchaus verdienter alter Mann mit achtenswerter Lebensgeschichte ist.
Mir reicht das – bei allen inhaltlichen Überschneidungen mit der eigenen Auffassung – nicht.
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ats20.de am : Gelesen. Hessel.
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Stéphane Hessel: Empört Euch! Berlin: Ullstein, 2011. Und … wie fandest Du es? – Knifflige Frage. Wie alle professionellen Leser habe ich natürlich meist etwas zu mäkeln … Ich hatte hier und dort im Netz schon enthusiastisches Lob gehört
Kommentare
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Thomas Kuban am :
Hanjo am :
Thomas Kuban am :
Ich habs vor einigen Wochen selbst gelesen. Fand es ebenso wie du insgesamt betrachtet nicht dem Hype entsprechend, von dem ich gehört hatte.
Ich kannte ihn aber auch vorher nicht und war und bin doch beeindruckt von seiner Person und der Lebensgeschichte.
Ich habe ihn aber auch weniger analytisch und weniger belesen gelesen als du. Letztlich hat er mich gedanklich nur mal wieder dazu gebracht, über meine eigene politische Haltung nachzudenken - bzw. genauer darüber, was eigentlich dieses links bedeutet, dem ich mich zurechnen würde. Ich habe gemerkt, dass ich das irgendwie etwas vernachlässigt hatte.
Abgesehen davon, dass er mit dem Blick auf die Resistance eine eigene frz. Tradition beschreibt, erinnerte es mich an ein anderes Buch, welches mir vor Jahren ein Politiklehrer mal empfohlen hatte: "Ein Deutscher in der Welt" von Klaus Mehnert. Auch hier Erinnerungen eines Diplomaten, aber eben eines Deutschen.