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Gelesen. Kuang.

Rebecca F. Kuang: Yellowface. New York: Morrow, 2023.

Unbekannte weiße Autorin stiehlt das Manuskript ihrer erfolgreichen asiatisch gelesenen Kollegin, die neben ihr betrunken an einem Stück Pfannkuchen erstickte, und gibt es als ihr eigenes aus. Weil sie für die Veröffentlichung des sofort zum Bestseller werdenden Buches ihren Namen in einen, der als asiatisch verstanden werden kann, geändert hat, sieht sie ihre Auffassung bestätigt, dass man heutzutage nur noch als Mensch mit offenkundig ausländischen Wurzeln erfolgreich sein kann. Bald jedoch wird ihr Erfolg von Demaskierung bedroht …

Ein überzeugender Thriller, nur gegen Ende mit Längen, aber insgesamt ein unterhaltsames Spiel um die Eigenheiten des aktuellen amerikanischen Literaturbetriebs mit Erwartungen an Diversität – aber nicht zu viel! –, literarische Aufarbeitung von historischem Unrecht – aber nicht von den falschen Leuten! –, Alltagsrassismen – aber wir doch nicht! – etc. Dabei werden virtuos die Vorurteile der am inneramerikanischen Kulturkampf Beteiligten gegeneinander ins Spiel gebracht.

Gelesen. Scheer.

Regina Scheer: Machandel. München: Knaus, 2014.

Die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse für ein Buch Scheers, das mich nicht so interessiert, war für mich Anlass, im Werk der Autorin, die mir bis dahin entgangen war, zu stöbern. Machandel ist Familien- und Zeitgeschichte in Mecklenburg (und Berlin), insofern ein Teil dessen, was Uwe Johnson deutlich virtuoser in seinem Roman Jahrestage behandelt hat. Da ihr Roman eine Generation später angesiedelt ist als Johnsons, spielen Ereignisse in der DDR und zum Ende derselben eine größere Rolle.

Scheer erzählt das Geschehen um ein »Schloss« genanntes Herrenhaus und die mit diesem verknüpften Schicksale multiperspektivisch, aber in diesen Stimmen (mit Ausnahme der emotional zurückgenommenen Funktionärssprache Hansens) wenig charakteristisch, stilistisch weitgehend konventionell. Es hat mir trotzdem gefallen, auch wenn es eher ein stilles denn ein großes Buch ist.

Gelesen. Dangarembga.

Tsitsi Dangarembga: Überleben. Übertragen von Anette Grube. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2023.

In der New York Review of Books erschien unlängst ein langer Artikel über Dangarembgas Schreiben und dessen Hintergrund, und so habe ich mir mal eines ihrer Bücher auf den Lesestapel gelegt. – Für mich durchaus interessante Lektüre (da man natürlich viel über Land & Leute in Simbabwe lernt), doch die Hauptfigur Tambudzai scheint eine wenig liebenswerte, was die Lektüre eher anstrengend macht.

Versehentlich habe ich mit dem dritten Buch ihrer Trilogie über Tambudzai begonnen (war mit den übersetzten Titeln durcheinander gekommen); ich werde mir bei Gelegenheit das erste (Aufbrechen) vornehmen.

Gelesen. Kuang.

Rebecca F. Kuang: Babel. Übertragen von Heide Franck und Alexandra Jordan. Eichborn, 2023.

»Enlightening Urban Silverpunk Fantasy Campus Novel« könnte das Etikett sein, unter dem dieser gehaltvolle Schmöker zu verkaufen wäre: zwar spielt es in einer alternativen frühviktorianischen Welt und hat fantastische Elemente, doch das wesentliche Moment scheint mir – anders als bei einem Großteil anderer Fantasy – Aufklärung zu sein: über das Wesen des (Früh-) Kapitalismus und die Industrialisierung, aber vor allem über »Kolonialismus, Rassismus und Klassismus«, wie Denis Scheck sagt (wobei er Sexismus versehentlich auslässt), sowie über die Frage der Notwendigkeit von Gewalt gegen ein ungerechtes und seinerseits gewalttätiges System. Es ist ein kluger Roman, aus dem viel zu lernen ist – nicht zuletzt in Bezug auf das Wesen und Funktionieren von Sprache und Übersetzung.

Danke, liebe Anna, für den guten Tipp! – Ich gebe die Leseempfehlung gern weiter.

Gelesen. Flašar.

Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Berlin: Wagenbach, 2023.

Suzu verliert einen ungeliebten Job und findet einen Beruf: Herr Sakai stellt sie und Takada ein, um Wohnungen von einsam Verstorbenen zu reinigen. Das ist weit mehr als der Reinigungsdienst, den sie zu Beginn darin sah.

Gefällt (obwohl Wagenbach noch immer die Janson BQ nutzt).

Gelesen. Penner.

Elina Penner: Nachtbeeren. Berlin: Aufbau, 2022.

Die düstere Geschichte der russlanddeutschen Mennonitin Nelli, ihres Mannes (der vom kleinen Sohn eines Tages zerteilt und säuberlich in Toppits-Beuteln verpackt in der Tiefkühltruhe gefunden wird) und ihrer Brüder; die Besonderheit, in einer abgeschiedenen plautdietsch sprechenden Subgesellschaft zu leben, die trennt zwischen ohnse und den anderen, mit aus der russischen Mangelwirtschaft übernommenen Eigenheiten der Vorratshaltung und vielen anderen Eigentümlichkeiten, von denen man gern liest, denn in den Worten der Erzähler*innen (es sind wechselnde) ist auch Komik und die Sprache eine vielfältig besondere.

Gelesen. Schönthaler.

Philip Schönthaler: Der Weg aller Wellen. Berlin: Matthes & Seitz, 2019.

In einer nicht fernen hochtechnisierten Welt verliert der Protagonist den Zugang zu seinem Arbeitsplatz im »Ring« dem Hauptquartier einer Firma à la GAFA, weil die Scanner an den Zugangsschleusen seine biometrischen Merkmale nicht mehr erkennen. Da auch die Shuttles zum Ring von der Firma betrieben werden, wird er gleichzeitig immobil und zum in seiner professionellen Selbstsicherheit erschütterten Paria – umso mehr, als sich niemand für den Fall zu interessieren scheint und die Hotline-Mitarbeitenden sein Anliegen kühl abperlen lassen, da das Beschäftigungsverhältnis aufgrund eines Datenbank-Fehlers nicht nachgewiesen werden kann. Schließlich verliert er seine per Fingerabdruckscanner gesicherte Wohnung und flüchtet aus der Stadt in eine Kommune von Aussteigern, die sich so freundlich gespalten zeigt wie Trumps USA.

Die verfremdend genauen Beschreibungen erinnern mich an Leif Randts Dystopien, und in ihrer Deskriptionsakribie liegt auch hier die auf U4 zitierte »antiromantische« Tendenz des illusionslosen Erzählens Schönthalers. Letzteres ist nicht ohne Reiz!

»Gute« Literatur lässt offen, was Genreerzählen – möglicherweise romantisierend – konkretisieren würde (Beispiel: Suarez’ Darknet), macht es sich damit auch bequem, weil sie das Problem – die Technik, die Menschen, tumb wie sie sind – in zynischer Erkenntnisfreude zeigt und damit ihren Teil geleistet zu haben glaubt. Dem scheiternden Kommunenhäuptling legt Schönthaler das Bonmot »Probleme erfordern Lösungen, keine Klage.« (ebd., 198) in den Mund. Daran fehlt es Literatur.

Gelesen. Menasse.

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Berlin: Suhrkamp, 2017.

Funktioniert alles: die satirische Darstellung der sich mit sich selbst beschäftigenden EU-Bürokratie, die Figuren, die (anders als die glatten karriereorientierten NPC-Funktionäre) im besten Fall versuchen, das Schlimmste zu verhindern, wenn beispielsweise die Kommission sich in einem Festakt selbst feiern möchte, die Peinlichkeit unangemessenen Gedenkens, die Zärtlichkeit auch, mit der das von brachialer Freundlichkeit der Pflegekräfte begleitete Verschwinden eines Zeitzeugen in seiner Demenz geschildert wird – und doch lässt mich das Buch mit seinen vielen Ansätzen (Krimi, Satire, Politthriller …) ein wenig ratlos zurück.

Gelesen. Ma.

Ma Jian: Traum von China. Übertragen von Susanne Höbel. Hamburg: Rowohlt, 2019.

Ma Daode, Direktor des Tram-von China-Amts, wird immer häufiger von den Erinnerungen an seine Taten während der Kulturrevolution überwältigt.

Teilweise derbe (satirisch übertreibende?) Schilderung von Systemgewalt, Korruption und Dekadenz.

Ma Jians Bücher sind in China verboten.

Gelesen. Gibson / Sterling.

William Gibson und Bruce Sterling: Die Differenzmaschine. Übertragen von Walter Brumm. München: Heyne, 1992.

Der Steampunk-Anteil ist interessant (Renndampfwagen, Gaslaternen, Datenbanken auf Lochkarten- und Dampfrechnerbasis, Bürgernummern, Ludditen, Geheimbünde innerhalb und außerhalb der Royal Society …), und natürlich treten die üblichen Verdächtigen auf (Charles Babbage, Ada Lovelace, John Keats), das Ganze wird aber mit einer wirren Revolutionsgeschichte auf der anderen Seite des Ozeans verbunden (geheime Waffenlieferungen, eine französisch-mexikanische Armee, eine texanische Junta …) und gerät auf diese Weise ein wenig aus dem Leim.

Gelesen. Liew.

Sonny Liew: The Art of Charlie Chan Hock Chye. New York: Pantheon, 2015.

Ausgehend von einem Interview mit dem (fiktiven) alten Comiczeichner Charlie Chan Hock Chye breitet die Biografie sein Leben und Werk aus: Artefakte aus seinem Alltag, Dokumente unterschiedlicher Art, Comic-Reihen in verschiedenen Stilen und Genres begleiten die Geschichte eines ambitionierten Comic-Zeichners vor dem Hintergrund der politischen Historie Singapurs von der britischen Kronkolonie über den gescheiterten Zusammenschluss mit Malaysia zum eigenständigen Stadtstaat Singapur mit einem sehr eigenen Begriff von Rechtsstaat und Demokratie. Formal großartig, inhaltlich klug und lehrreich.